Freitag, 19. Dezember 2014

Gippsland, VIC

Wie man sich den besten Campingplatz für die Sommerferien unter den Nagel reisst • Was Melbourne und Gippsland verbindet • Weshalb die Great Ocean Road nicht das einzige Touristenziel im Süden Australiens ist • Warum Gippsland in ganz Australien bekannt ist.


Verlässt man das Zentrum von Melbourne, erreicht man — je nach Verkehr — in 10 Minuten die nahen Vororte. Die Agglomeration Melbourne hat gut 4 Mio. Einwohner, und entsprechend breit ist der Vorortsgürtel. Fährt man nach Osten oder Südosten aus der Stadt heraus, ist der Gürtel 30-40 km dick, weil der Grossteil der Bevölkerung in Einfamilienhäusern wohnt, was viel Fläche beansprucht. Fährt man in dieselbe Richtung weiter, ist man bald schon in der Region Gippsland, die ziemlich genau so gross ist wie die Schweiz und landschaftlich fast ebenso divers. (Der Vollständigkeit halber: der Staat Victoria, VIC, dessen Hauptstadt Melbourne ist und in dem Gippsland liegt, ist siebenmal so gross wie die Schweiz).


Gippsland grenzt im Norden an das High Country mit seinen riesigen Eukalyptus- und Föhrenwäldern, mit Bergen — wo im Winter sogar Ski gefahren wird —, mit Flüssen und (Stau-)SeenIm Süden ist Gippsland begrenzt durch die Bass Strait, die raue Meerenge zwischen dem australischen Festland und Tasmanien. Dazwischen ist liegt vor allem Agrarland. Etwas Ackerbau, etwas Schafzucht, aber weitaus der grösste Teil ist Milchwirtschaft und Fleischzucht. So etwas wie das Emmental von Australien. Es ist vorwiegend hügeliges oder flaches Grasland, unterbrochen von Baum- und Buschhecken, durchsetzt mit Wäldern und Seen, besprenkelt mit Tausenden Farmen. Und dann gibt es auch noch einige Städchen und viele Dörfer. 

Wer findet die Kühe?


 Eine typische Farm (Bild anklicken für Vergrösserung). Links ist der Geräteschuppen; Stall gibt es keinen — die Kühe sind immer draussen.

Gippsland ist kein eigener Verwaltungsbezirk sondern überspannt gleich mehrere davon. Trotzdem leben hier nur eine Viertelmillion Menschen, was dem Ganzen eine natürliche Grosszügigkeit verleiht. Die wichtigeren Städte haben zwischen 10'000-20'000 Einwohner und sind vor allem Regionalzentren für die Landwirtschaft. Gippsland ist im Rest von Australien vor allem für seine Milchprodukte bekannt. Es gibt Buslinien und eine Bahnlinie, aber ohne Auto ist es hier ziemlich bitter. Gippsland ist kein klassisches Ziel für Australientouristen. Noch nicht, denn Gippsland ist ganz sicher unterbewertet, speziell jetzt in der Vorsaison. Die Küsten- und Fischerstädtchen haben zwar oft einen etwas verwelkten Charme, viele Lokalitäten sind geschlossen oder haben reduzierten Öffnungszeiten.

Haben aber erst einmal die Sommerferien über Weihnacht und Neujahr angefangen, dann ist das Gerangel um Unterkünfte in Meeresnähe garantiert, denn Melbourne ist im Sommer heiss und nur 1-4 Stunden Autofahrt entfernt. Bereits jetzt, drei Wochen vor den grossen Ferien, stellen gewisse Schlaumeier schon mal ihren Wohnwagen auf einen der kostenlosen Campingplätze, um den Top Spot auf sicher zu haben, wenn sie nach Weihnachten wieder anrücken.



Gippsland und Melbourne teilen eine interessante Eigenschaft: Während Melbourne nicht über die singulären Touristenattraktionen wie das Opernhaus, die Harbour-Bridge oder den Hafen von Sydney verfügt, so ist es trotzdem eine ebenso attraktive Destination, wenn man etwas Zeit mitbringt und die Stadt und ihre Umgebung für sich entdecken kann. Neben den viktorianischen Arkaden der Innenstadt, dem Botanischen Garten oder dem neu entwickelten Quartier, westlich des Zentrums, bietet Melbourne vor allem kulturelle Werte wie Märkte, Restaurants, Theater und Konzerte, Sportanlässe, etc. In gleicher Weise lockt auch Gippsland den Touristen nicht mit “big ticket”-Sehenswürdigkeiten vom Kaliber eines Ayers Rock oder einer Great Ocean Road, die man besuchen und abhaken kann. Auch für Gippsland muss man etwas Zeit und Neugier mitbringen.

Der Wilson’s Promontory Nationalpark und die Lagunen (“Lakes”, "Inlets") zwischen Lakes Entrance und Mallacoota werden vom zuständigen Touristenbüro aktiv und mit Erfolg vermarket. Mit dem Resultat, dass man in der Hauptsaison sowohl für den einzigen grossen Campingplatz in Wilson’s “Prom” sowie für fast alle Unterkünfte um Lakes Entrance Monate im voraus reservieren muss. Hier sollte man also generell, wie bereits erwähnt, in der Nebensaison einen Besuch abstatten. Aber der Railtrail von Bairnsdale nach Orbost (94 km) wird kaum je überlaufen sein, weil man auf der ehemaligen Bahnstrecke selbst mit dem Velo fahren muss — die Geleise und Schwellen wurden natürlich entfernt. Der Farmers Market in Koonwarra bleibt auch in der Hauptsaison eine persönliche Angelegenheit. Die Boardwalks des Common State Game Refuge in Sale bieten selbst während der Ferienzeit Ruhe und Möglichkeiten zur Vogelpirsch. Es gibt hunderte von Kilometern Strände, die nicht von Badenden eingenommen werden, weil man ein, zwei Kilometer zu Fuss gehen muss, um sie zu erreichen.  Die kleinen, ländlichen Städte haben allerhand Skurriles und Ulkiges zu bieten, wenn man nur genau hinschaut. Und auch die unzähligen ungeteerten Nebenstrassen durch herrliche Wälder kennen während der Sommerferien keinen Stau. Auf hunderten kürzeren und längeren beschilderten Rundwanderungen kann für sich neue Pflanzen und Tiere entdecken. Naturerlebnisse sind ganzjährig garantiert.




Swing Bridge (dreht um den mittleren Pfeiler) in Sale 



 Speargrass … piekst!


Es lohnt sich also durchaus, mit vier bis sechs Wochen Ferien im Gepäck in Melbourne zu landen, zwei Wochen Melbourne und Umgebung (Radius 100 km) zu erkunden, und dann statt in den Westen zur Great Ocean Road in den Osten zu reisen, um Gippsland bis zur Staatsgrenze zu New South Wales zu durchstreifen. 


Freitag, 28. November 2014

Gone Fishing

Wie man Risiko definiert • Weshalb die Schreckensnachrichten um Australiens giftige Tiere Panikmache sind • Warum diffuse Warnungen nichts nützen • Wie ein risikobewusstes Warnschild aussieht.

In der Schweiz wird Australien zuerst assoziiert mit Kängurus, Koalas, Outback, Sonne, Surfen, etc. Recht bald werden auch die giftigen Schlangen, Spinnen, die Haie und die Krokodile genannt. Eine Deutsche sagte mir kürzlich, sie würde Australien wegen all der gefählichen Tiere auf keinen Fall besuchen. Ein Fall von Hysterie? — Rational gesehen schon, denn Risiko ist ja bekanntlich die Verknüpfung vom anzunehmenden Schaden mit dessen Eintretenswahrscheinlicheit. Letztere darf aber nie am Einzelfall sondern muss statistisch über möglichst viele Fälle betrachtet werden. Doch werden Ängste häufig gerade auf Erzählungen von Bekannten oder auf Medienberichte abgestellt, die eben nur Einzelfälle sind.

Es überrascht deshalb nicht, dass "all diese tödlichen Tiere" gar kein hohes Risiko darstellen: die Todesursachen (siehe TABLE 4) in Australien für 2012 werden angeführt von Stürzen (1691 Opfer), unabsichtlichen Vergiftungen (1031) und Autounfällen (840); bald folgen Fussgängerunfälle (224) und Ertrinken (222). Die gefährlichen Tiere schaffen es nicht in die Liste der häufigsten unnatürlichen Todesursachen. Auch die Website von z.B. "Bob in Oz" gibt diesbezüglich Entwarnung.

Die Australischen Behörden kennen diese Statistiken natürlich auch, und entsprechend sind Warnungen vor bestimmten Tieren selten. In Queensland wird am Strand allerdings häufig vor den giftigen Quallen gewarnt, die dort saisonabhängig das Baden verunmöglichen. Und weil die Statistik bekannt ist, wird dafür z.B. auf Wanderwegen ausführlich gewarnt, wie ich schon 2011 festgehalten hatte.



Am Sonntag bot sich am Anfang des wunderbaren Coastal Walk in Kilcunda (oben) folgendes Bild:


Die Warnungen sind eher generisch: Gefährliche Strömungen, unerwartet grosse Wellen, rutschige Felsen, etc. Das sind eher diffuse Risiken, und ich frage mich, wie viel diese Schilder wirklich bringen, denn betroffen fühlt sich wohl fast niemand. Was aber auffiel, war das rechts im Hintergrund zu sehende Plakat mit dem vielsagenden und durchaus zweideutig gemeinten Titel «GONE FISHING»:

(Klicke auf das Bild)

In der oberen Bildhälfte ist ein Fels zu sehen um 13:57 Uhr, das Meer ist ein paar Meter weiter unten. Darauf ist etwas mit einem weissen Kreis hervorgehoben. Im unteren Teil des Bilds ist derselbe Fels eine Minute später zu sehen, wie er gerade von einer riesigen Welle überspült wird.

Schaut man sich den weissen Kreis im oberen Bereich genauer an, erkennt man … einen Fischer.


Hier wird ein sehr konkretes und hohes Risiko illustriert, was einen tatsächlich nachdenklich und vorsichtig stimmt. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet! Und "GONE FISHING" ist nicht als "Ich bin fischen gegangen" zu verstehen sondern als "Beim Fischen gestorben". So wird die Statistik für 2014 hoffentlich weniger als 222 Tote durch Ertrinken ausweisen.

Freitag, 21. November 2014

Wie man einen Kontinent "erobert"

Warum wir am richtigen Ort sind • Was Rückkehrer als erstes essen • Weshalb wir nicht mit dem Velo reisen • Wie man die grobe Reiseroute festlegt sollte.

Das Englische hat eine prima Redewendung parat, wenn man vor einer grossen und komplexen Aufgabe steht:

«How do you eat an elephant?» — «One bite at a time.»

Am Montag Abend hat uns eine A380 nach unserem zweiwöchigen Erholungsurlaub in Neuseeland auf den australischen Kontinent gesetzt.


Der Container mit unserem Auto traf bereits ein paar Tage früher in Melbourne ein. Offensichtlich sind wir hier am richtigen Ort, denn es steht auf jedem Auto:


So versuchen wir uns nun an der Aufgabe, uns hier zu organisieren und die kommenden 11 Monate zu planen. Die Hausaufgaben haben wir in dem Sinn nicht gemacht, dass wir mit einer Reiseroute im Gepäck gelandet sind. Den Staat Victoria kennen wir von unserem Jahr in Melbourne in 2010 ziemlich gut. South Australia kennen wir ein wenig. Den Rest kennen wir kaum. Aber das soll sich ja jetzt ändern.

Doch wie nimmt man die "Eroberung" von Australien (zur Erinnerung: Aussie ist 185 Mal so gross wie die Schweiz) konkret in Angriff? — Wenn wir uns an die eingangs beschriebene Hilfestellung halten, dann  «One bite at a time». Auf Deutsch würde man dafür vermutlich sagen, «Schritt um Schritt». Dieses Mal hatten wir die Gelegenheit, ganz vorne zu beginnen:

Schritt 1 — Wohnadresse

Wir landeten in Melbourne um 21:05. Es war bereits dunkel. Auf der arrival declaration war erstmals unsere Wohnadresse gefragt. «Travelling» wäre wohl keine sehr geistreiche Angabe gewesen, es ist allerdings fraglich, ob der Immigrationsbeamte diese beanstandet hätte.


Am Flughafenausgang wurden wir von unseren Freunden David und Robyn erwartet. David hatte mir 2010 hier meinen Job gefunden, und die beiden hatten uns 2013 für zwei Wochen in Bern besucht. So hatten wir den Luxus eines "Taxis" direkt zu ihrem Haus.

Schritt 2 — Orientierung

Vom Fond des Autos aus konnte man nicht so viel erkennen, einiges kam uns dennoch bekannt vor. Von ihrem Haus wussten wir nur, dass es im Nordosten der riesigen Stadt liegt. Am nächsten Morgen waren alle bereits zur Arbeit gegangen, als wir in dem grossen Haus erwachten. Der Blick aus dem Fenster enthüllte nicht den erwarteten Weitblick.


Wo waren wir genau? David oder Robyn anrufen? — Erst einmal vor das Haus treten.


Aha, ein eher privilegiertes Quartier. Google Maps wusste dann bereits, wo wir uns befanden:


Schritt 3 — Essen und Trinken

Der Kühlschrank war wohl gefüllt, und von einem kräftigen Frühstück gestärkt machten wir uns auf die Suche nach dem nächsten Shopping Center. Dort war es auch, wo wir später unsere ersten hand rolls verzehrten: Reisrollen mit einem Kern aus Gemüse oder Fisch, zusammengehalten von einem aus Algen hergestellten Blatt. Dazu etwas Wasabi und Sojasauce. Köstlich. $2.60 das Stück.


Schritt 4 — Geld

Damit wir uns überhaupt etwas kaufen konnten, mussten wir zuerst eine ANZ-Bank finden. Unsere Bankkarten von 2009 funktionierten noch, aber wir werden nun trotzdem neue erhalten. Ohne Wohnadresse ging es aber nicht (siehe Schritt 1).

Schritt 5 — Kommunikation

Das Internet im grossen Haus hatte uns bereits auf die Sprünge geholfen, aber für 11 Monate lohnt sich die Anschaffung von neuen SIM-Karten und Mobile Internet. Hier ist der ehemals staatliche Provider Telstra die logische Wahl, wenn man auf Abdeckung schaut, und diese ist für uns vor allem wichtig. Es nützt nicht viel, die günstigsten Tarife zu haben, wenn man das Netz bereits kurz nach Melbourne hinter sich lässt. Auch hierzu war die Wohnadresse essentiell.

Schritt 6 — Transport

Selbst als längjährige Veloreisende müssen wir eingestehen, dass das Fahrrad nicht das Verkehrsmittel erster Wahl ist, wenn man Australien in einem Jahr flächendeckend erkunden will. Mit Kasbah verfügen wir — nicht ganz zufällig, muss man sagen — über ein äusserst geeignetes Transportmittel. Er kam bereits vor einer Woche hier an. Am Mittwoch holten wir ihn aus dem Container und warten nun darauf, dass er von der Quarantänebehörde inspiziert und freigegeben wird. Die Haftpflichtversicherung wird beim lokalen Strassenverkehrsamt gelöst, das Auto fährt aber mit Schweizer Nummernschildern. Natürlich wollten sie auch hier eine Wohnadresse.


Schritt 7 — Reiseroute

Während die Schweiz klein genug ist, dass man in ein paar Stunden von unten links nach oben rechts fahren kann, muss man sich in Australien wohl oder übel eine Reiseroute zurechtlegen, will man nicht mehrfach den Kontinent durchqueren (zur Erinnerung: Perth (unten links)– Cairns (oben rechts) = 6016 km).

In einem Land, das sich über mehrere Klimazonen erstreckt, ist die zeitlich-räumlich richtige Planung entscheidend. Im Outback ist es im Sommer bei Temperaturen bis gegen 50°C kaum auszuhalten und im Fall einer Panne schlicht zu gefährlich. Im Norden sind in der Regenzeit viele Strassen unpassierbar. Im Süden ist der Winter grauslich feucht, kalt und dunkel.

Und damit sind wir bei unserem aktuellen Planungsstand angelangt. Es ist die Aufgabe der nächsten Tage und Wochen, genauer abzuklären und im Gespräch mit den locals herauszuarbeiten, wann welches Gebiet am besten bereist wird. Im Range Rover Club kennen wir einige Mitglieder, die Australien bereits mehrfach rundherum bereist haben. Eine detaillierte Reiseroute werden wir im voraus aber nicht festlegen, sondern nur versuchen, zur richtigen Zeit im richtigen Teil Australiens zu reisen und uns dabei etwas treiben zu lassen und rollend zu planen. «One bite at a time» eben.

Samstag, 8. November 2014

Das Hausratfilter

Wie es kam, dass wir so viel Zeug besitzen • Warum der Schlaf wieder einmal zu kurz kam • Wie aus einer Viereinhalbzimmerwohnung mit grossem Keller zwei Reisetaschen werden • Weshalb Palettieren nicht per se die Lösung ist • Warum Stretchfolie die beste Erfindung war.

Die Aufgabe war so rasch definiert wie aufwändig zu realisieren: wir würden am 1. November mit nichts mehr als zwei Reisetaschen und etwas Handgepäck ins Flugzeug nach Australien steigen, während der ganze Rest unserer Besitztümer die Hardeggerstrasse 12 in Bern verlassen hatte. So galt es also, von gefühlten 500'000 Hausratgegenständen auf 500 zu kommen — ein ziemlich feiner Filter. Doch gehen wir der Reihe nach.

Als wir im vergangenen Juli den Entschluss fassten, unser Reisefahrzeug im September per Container vorauszuschicken und unsere Wohnung auf Ende Oktober zu kündigen, war klar, dass der ganze Hausrat eingestellt werden musste, und wir im Flugzeug folgen würden. Dass die Planung etwas forsch war, die Wohnung am 31. Oktober abzugeben und am 1. November abzufliegen, war ebenso klar. Irgendwie würde es schon zu schaffen sein … Mittlerweile sind wir einen halben Erdumfang weiter und haben uns erholt — so viel Planungsoptimismus musste natürlich wieder einmal mit Schlaf bezahlt werden. Aber um Projektmanagement soll es hier nicht gehen, sondern darum, wie man aus viel Zeug wenig macht.

Eine kleine Chronologie soll helfen, die Dimension des Unterfangens zu überblicken (Klick aufs Bild).

Die x-Achse zeigt fortschreitende Zeit, die y-Achse den Raum, den unser Zeug benötigte

Als wir 2008 aus unserer 2.5-Zimmerwohnung in die grosszügigen 4.5 Zimmer zogen (1), hatten wir 1 Tisch und 6 Stühle, 1 Bett, 1 Sofa, 1 Sessel, 1 Leinwand, 5 Regale, 1 Palme, 1 Auto, 1 Motorrad, 8 Velos und einen kleinen Keller. Kurze Zeit später (2) waren wir "stolze" Besitzer von 5 Tischen, 12 Stühlen, 3 Sesseln, 7 Regalen, 1 Gas-BBQ, sowie 1 Maxiwandschrank (5.5 x 2.7 x 0.6 m). Im Lauf der Jahre kamen 1 Werkbank, 1 grosses Auto, 1 Velo, 8 grosse Topfpflanzen, Lampen und weitere Anschaffungen hinzu (3). Die Wohnung machte vielleicht nicht den Eindruck von üppiger Möblierung, aber sie hatte sehr viel Stauraum. Der grosse Keller war Segen und Fluch zugleich.

Im Mai 2014 fassten wir den Entschluss, auf Reise zu gehen (4), was neue Ausrüstung erforderte (5). Als nächstes ging es darum, die rote Kurve wieder nach unten zu richten und Zeug abzubauen. Am 23. September schickten wir unseren Camper mit dem grössten Teil der Reiseausrüstung los (6). Danach ging es dem Rest an den Kragen: gemäss dem ersten Prinzip der nachhaltigen Stoffstöme — Verlängerung der Lebensdauer — organisierten wir einen garage sale (auch bekannt als yard sale oder Flohmärit) vor unserem Haus (7). Wir verkauften ein paar hundert CDs, viele Bücher, Kleider, Langlauf- und Kletterausrüstung, Geschirr, ein Velo, etc. Die Idee war für viele Passanten offenbar neu und zuerst etwas befremdlich, es ergaben sich dann aber lustige Kontakte.


Damit wir weniger Gegenstände einzulagern hatten, machten wir Freunden und Bekannten das Angebot, dass sie Möbel oder Geräte für ein bis zwei Jahre ausleihen und benutzen können. Gleichzeitig boten wir Gegenstände zum Kauf an (8). So fanden 2 Tische, 12 Stühle, 1 Sessel, 1 Gas-BBQ, 2 Lampen, 1 Spiegel, 1 Leinwand, 1 grosse Topfpflanze und 1 Rennvelo temporäre neue Besitzer, während 1 VW Sharan, 1 Mountain Bike, 1 Heimkino-Projektor, meine B&O-Anlage sowie zahlreiche grosse Pflanzen permanent die Hand wechselten.

Was sich am Flohmarkt, auf Ricardo und auch sonst als Ladenhüter entpuppte, landete bei der Heilsarmee im Bümpliz (10) oder auf dem städtischen Entsorgungshof (11).


Was nun noch übrig blieb, ging in ein Lager. Das war eine ausgewachsene Züglete, und da wurde uns vollends bewusst, wie viel Zeug wir besitzen: zu viel! Einige Regale, die wir gerne losgeworden wären, fanden keinen Abnehmer, waren aber auch zu schade fürs Recycling, und sind nun ebenfalls im Lager.



Der Lagerplatz ist 15 m2 gross, und wir konnten bis zu 3 m hoch stapeln. Da lag es nahe, möglichst viel in Kisten und Kartons zu verpacken und auf Paletten einzulagern.


Als unentbehrlich erwies sich dabei die Stretchfolie auf dem Handabroller: damit kann man rasch und einfach Gegenstände schützen oder mehrere Gegenstände zusammenkleben, egal ob klein (Streben, Tablare) oder gross (ganze Paletten).


Die Schwierigkeit beim Palettieren ist, dass man einige Paletten so stabil laden und oben eine plane Fläche schaffen muss, dass man darauf je ein weiteres Palett stapeln kann. Das gelang uns nur ungenügend. Ein nächstes Mal müssten wir noch konsequenter versuchen, alles in gleich grosse Kartons zu packen und für die sperrigen Gegenstände (z.B. Staubsauger, Lampen) mit Palettrahmen zu arbeiten. Zudem hatten wir zum Beladen des Lastwagens lediglich einen Handgabelwagen, sodass wir dort ohnehin nicht stapeln konnten. Der Effekt war, dass nicht alles auf den Lastwagen passte. Es wurde ein sehr langer Tag :-(

Im Lager hatten wir alsdann ein dreidimensionales Puzzle zu lösen, da wir kaum stapelbare Paletten hatten. Das Bild zeigt die Ausnahme. Am Ende passte "häb-chläb" alles auf die 15 m2.


Nachdem die Wohnung gereinigt und abgegeben war, musste das Putzmaterial und alles, was nicht mit auf die Reise kommen sollte, ebenfalls ins Lager einsortiert werden (12).


Mit zwei grossen Reisetaschen traten wir den Transfer nach Ozeanien an. Damit ist die Sache aber noch nicht ausgestanden: wenn wir unseren Hausrat dereinst mal wieder auslagern, ist das alte Ziel wieder das neue Ziel: Zeug filtern und loswerden! Die wirkungsvollste Massnahme scheint derzeit eine kleinere Wohnung zu sein.

Ironischerweise hatte SRF3 genau in unserer Zügelwoche eine Serie über Minimalismus. Ein "Minimalist" aus Zürich lebt konsequent mit nur 200 Gegenständen. Bevor er einen neuen kauft, wird er einen alten los. So geht das! Ich dachte jedesmal an ihn, wenn ich eine der 40 Kisten aufhob: allein in dieser Kiste würden sich vermutlich über 200 Gegenstände tummeln.

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Ein Bremach übt den Handstand und guckt in die Röhre

Achtung, jetzt ganz laut lesen:

Coooooooooo-eeeeeeeeee!!!

Das ist nämlich ein Weckruf: gut drei Jahre lang hat dieser Blog etwas gedümpelt, doch nun geht's auf zu neuen Ufern. Die neuen Ufer sind aber zunächst die alten Ufer: vor zwei Wochen hat unser Bremach den Handstand geübt, um sich auch "unten rum" so richtig sauber machen zu lassen, nachdem er letzte Weihnacht in Tunesien noch einmal so richtig Sand eingelagert hatte. Er muss blitzeblank sauber sein, sonst lässt ihn der Herr Biosecurity-Officer nicht ins Land.




Seit letzten Freitag schaukelt er auf dem Rhein dem Meer entgegen und soll am 14.11. in Melbourne ankommen. Damit er in den Container passt, müssen die Räder durch kleine Laufscheiben ersetzt werden. Ouch! Da kommt ja nochmals Dreck zum Vorschein :-((((((





Damit ist auch praktisch unser ganzes Reisegepäck unterwegs, und wir fliegen am 1. November hinterher. Unsere Arbeitsverhältnisse werden bis dann aufgelöst und unser VW Sharan verkauft sein. Vorher gibt's aber noch eine grosse Wohnung mit grossem Keller zu leeren, einen bezahlbaren Möbeleinstellplatz zu suchen, alles einzustellen, Versicherungen abzuschliessen und zahllose Reisevorbereitungen zu treffen. Zahlreiche Gegenstände suchen noch Abnehmer, helfende Hände werden wir in den letzten zwei Oktoberwochen nicht wegweisen. Einladungen zum Essen können wir nur noch spontan annehmen.

Falls es uns nach einem Jahr Australienreise noch nicht verleidet ist, geht es für ein weiteres Jahr — oder so … — in Südamerika weiter. Diesen Blog werde ich im ähnlichen Stil wie vor vier Jahren weiterführen, also themenorientiert und nicht als öffentliche Ausbreitung unseres kleinteiligen Reisealltags.

P.S. Für alle diejenigen, die den Ruf «coo-ee!» nie verstanden oder vergessen haben, was er bedeutet: im Australischen Busch ruft man nicht «Haalloo, ist da jemand?», um herauszufinden, ob jemand in der Nähe ist, sondern eben «coo-ee!», ausgeprochen ghuuuu-iiiiii.

Montag, 26. Mai 2014

Was ist ein Energieinformatiker?

Und schon sind wieder zwei Semester meines Studiums vergangen — die letzten zwei Semester. Im Sommer 2013 standen eher allgemeinbildende Fächer auf dem Programm, u.a. Kommunikation, Projektmanagement, Qualitätsmanagement, Prozessmanagment. Im vergangenen Winter hatte ich eine Masterarbeit zu schreiben. Und jetzt ist alles Geschichte: am Freitag flatterte der definitive Bescheid ins Haus.


Im Fach Kommunikation hatte ich einen Englischkurs am PC zu absolvieren. Das scheint auf den ersten Blick banal, wenn man seit zwanzig Jahren beruflich fast täglich mit englischsprachigen Kollegen zu tun hat und schon über zwei Jahre im Ländern verbracht hat, die ehemals der britischen Krone unterstanden. Aber hoppla, ich hatte den technischen Fortschritt bei der Lernsoftware unterschätzt: alle Module waren sehr praxisorientiert, enthielten Fotostories und Dialoge zum Anhören; der Aussprachetrainer — jawohl, man spricht zum Computer — erwies sich als ausgesprochen pingelig, sodass ich an meiner Aussprache und Betonung zu feilen hatte, bevor es weiterging.


Der technische Fachwortschatz für Energiebelange war ziemlich umfangreich und oft überraschend anders: von Fernheizung kommt man nicht sofort auf district heating, und Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) wird paarweise genau umgekehrt sortiert, nämlich chlorofluorohydrocarbon (CFC). Ein ausgezeichnetes dreitägiges Kommunikationsseminar mit den Schwerpunkten Präsentationen und Mitarbeitergespräche rundete das Programm ab.

Auch im Fach Projektmanagement warteten ein paar Überraschungen für denjenigen, der gedacht hatte, nach zwanzig Jahren Projekterfahrung zu wissen, wie man Projekte führt. Der Dozent schaffte es, in einem gut 150 Seiten starken Skript eine griffige und praktische Methode zu vermitteln, die sich auf eine grosse Bandbreite von Projekten anwenden lässt und das Projektrisiko vermindert, ohne dass unnötige Dokumente zu erstellen und zu pflegen sind. In einer praktischen Gruppenarbeit war über das Semester ein Projekt zu planen und zu führen, wir entschieden uns für das Thema 2, «Länderübergreifender Windpark», und bauten ein fiktives Windkraftwerk in den Bodensee. Die fünf Gruppenmitglieder waren über Deutschland und die Schweiz verteilt, sodass es galt, die Arbeit über Skype und Email zu koordinieren und die Ergebnisse in Microsoft SharePoint zu erarbeiten (ich erspare mir hier abfällige Bemerkungen über das Tool).

Ebenfalls unerwarteten Erkenntnisgewinn gab es im Fach Prozessmanagement, denn ich war seit langer Zeit ein grosser Skeptiker der "Prozessitis" in den Unternehmen gewesen. Zwar galt es hier, sich durch 500 Seiten eines Standardwerks1 zu kämpfen, aber der Ansatz überzeugte mich in seiner Radikalität. Die Umsetzung dürfte aber schwierig sein, denn anstelle einer funktionalen Unternehmensgliederung in Divisionen, Abteilungen, etc. wird die Firma entlang seiner Wertschöpfungsprozesse aufgeteilt: ein Prozess ist nicht mehr ein Ablaufbeschrieb sondern eine Unternehmenseinheit, die aus Leuten besteht, welche genau einen End-to-Endprozess betreiben, überwachen und laufend verbessern. Jeder Geschäftsprozess beginnt dabei immer beim Kunden und endet immer beim Kunden.

Ein noch grösserer Skeptiker war ich gegenüber ISO 9000. Ich war bisher der Meinung, man müsse Qualität "vorne" ins Produkt einbauen statt sie "hinten" ins Produkt hineinzuprüfen oder hineinzutesten. Auch hier lehrte mich ein sehr gutes Skript eines besseren. Und jetzt weiss ich sogar, dass man sich ISO 9001 (nicht ISO 9000!) zertifizieren lässt, und dass der ISO 900x-Standard im Kern ein sehr knapp gehaltenes Werk ist (12 Seiten für ISO 9000, 15 Seiten für ISO 9001). Nicht zufällig wurde ich letzte Woche bei Paranor zum QMB ("Qualitätsmanagementbeauftragter") bestimmt, weil die Führung von Paranor beschlossen hat— ohne meine Anregung oder mein Zutun !—, dass wir uns ISO 9001 zertifizieren lassen wollen. Eine gewisse Skepsis bleibt mir dabei, aber jetzt kann ich wenigstens mit etwas Hintergrundwissen urteilen. Und ich glaube, dass uns diese Zertifizierung tatsächlich Nutzen bringen wird.

Ab Mitte Oktober stand dann die Master Thesis mit einem vorgegebenen Aufwand von 450 Stunden an. Um es vorweg zu nehmen: natürlich haben die 450 Stunden am Ende nicht gereicht …
Es war nicht ganz einfach gewesen ein Thema resp. einen Betreuer zu finden, zumal ich etwas Angewandtes in der Schweiz machen wollte. Prof. Urs Muntwyler vom Photovoltaiklabor der Berner Fachhochschule Burgdorf dachte sich ein Thema für mich aus: «Konzeption und Protoyping eines
Smart-Grid-Leistungsmanagements für elektrische Sanitärverbraucher in einem Mehrfamilienhaus».


Wenn man "Sanitärverbraucher" durch "Durchlauferhitzer" ersetzt, dann kann man sich schon halbwegs etwas vorstellen. Das Poster (oben), welches den praktischen und leicht verständlichen Teil meiner Arbeit zusammenfasst, sagt einleitend und zugleich zusammenfassend:
Die zentrale Aufbereitung des Trinkwarmwassers und dessen dezentraler Konsum in Mehrfamilienhäusern leidet unter grossen Wärmeverlusten bei der Bereitstellung und Verteilung. Nahe an den Zapfstellen installierte elektrische Durchlauferhitzer haben vernachlässigbare Bereitstellungs- und Verteilungsverluste. Sie liefern das Warmwasser gradgenau und innert Sekunden. Dazu beziehen sie dreiphasig elektrische Leistungen von bis zu 27 kW. Laufen in einem Mehrfamilienhaus gleichzeitig viele Durchlauferhitzer mit hoher Leistung, können sie in der Summe eine Überlastung des Hausanschlusses verursachen. (...)
In einem Prototypenprojekt sollte die technische Machbarkeit und die Wirtschaftlichkeit eines Produkts zur Begrenzung der kollektiven Maximalleistung der Durchlauferhitzer in einem Mehrfamilienhaus geprüft werden. (...) 
Eine Laboranlage demonstriert mit handelsüblichen Komponenten die prinzipielle Wirksamkeit der Steuerung und deren intuitive Bedienung.
Wer sich nun vor lauter Interesse für die Arbeit nicht mehr halten kann, dem sei das kurze Studium des Posters empfohlen (PDF). Die 120 Seiten der Master Thesis werden sich die wenigsten antun wollen. Für mich war die Arbeit sehr interessant. Mein Betreuer gab mir fast vollständige Freiheit, ich erhielt sehr viel wertvolle Unterstützung von der Firma Clage in Lüneburg, welche mich zum Besuch ihrer Firma einlud und mich zwei Tage ins Büro ihrer Informatiker setzte, wo ich den Grundstein für meine Software-Steuerung legen konnte. Das also machen Energieinformatiker zum Beispiel. Sehr motivierend! Dass ich die anfänglich anvisierte DigitalStrom-Technologie für die Gebäudeautomation letztlich nicht einsetzen konnte, war zu verschmerzen.

Inzwischen arbeite ich bei Paranor AG wieder 80%. In den "anderen" 20% versuche ich mich in die Schweizer Energiewirtschaft einzuarbeiten, oder auch ganz einfach das zu tun, was in den letzten zweieinhalb Jahren liegenblieb oder zu kurz kam. An einem Workshop bei Paranor kamen wir letzte Woche zum Ergebnis, dass die Energiewirtschaft mehrere Chancen bietet, dass wir uns diesen Markt aber wohl Stück für Stück werden eröffnen müssen. Vielleicht heisst es dann eines Tages: Paranor Engineering AG, Energieinformatik ;-)  Aber grundsätzlich stünden mir jetzt natürlich auch noch andere Wege offen. Nur selbständig machen werde ich mich nicht, das weiss ich.

Geschäftsprozessmanagement in der Praxis von Schmelzer und Sesselmann