Montag, 7. März 2011

Interview — Teil 4

Teil 1
Teil 2
Teil 3 

Arbeiten in Melbourne

A380

Coooo-eeee: Wir sitzen jetzt hier im Flughafen Dubai – bist Du gut gereist?

Oliver: Super, sogar. Der Hinflug von Dubai nach Melbourne war die Hölle, weil in der B777 der Fussraum vor dem Sitz mit dem blöden Computer für das In-Flight Entertainment System versperrt war. Ich konnte kaum sitzen, geschweige denn schlafen, und hatte danach ein paar Wochen Rückenweh. Der Grund, weshalb ich jetzt doch wieder mit Emirates geflogen bin, war die Aussicht, im neuen A380 zu reisen. Das ist der Riesenvogel mit einer Kapazität von 800 Personen.

Und?

Endlich mal genügen Knieraum

Ich bin begeistert. Man hat auch in der Economy-Klasse gut Platz. Die Gänge sind breit, es hat vier Toiletten statt nur zwei, und es gibt Economy-Plätze praktisch in der Nase des Flugzeugs, wo es recht ruhig ist. Zudem kann man bei Emirates 30 kg Check-In-Gepäck mitnehmen, worum ich sehr froh war.


Zurück zu unserem eigentlichen Interview: Wie ging es mit Deinem Job in Melbourne?

Ich hatte gleich zweifach Glück: zum einen fand ich eine interessante Arbeit, die mich forderte. Und zum anderen stiess ich so früh zum Team, dass ich dem Produkt meinen Stempel aufdrücken und bei wichtigen Technologieauswahlen mitbestimmen konnte. Ich gehe jetzt hier nicht in die technischen Details; wir spezifizierten und bauten von Grund auf ein neues grafisches Werkzeug und eine Server-Umgebung für das Workflow-Design und die Abarbeitung von Kreditanträgen. Technisch konnte ich fast dort weiterarbeiten, wo ich bei Paranor aufgehört hatte und dann noch Erfahrung aus früheren Projekten zugeben. Ich habe Modelle für den Workflow und für die grafische Oberfläche erarbeitet, von denen wir — wie bei Paranor — relativ viel Code generieren konnten.

Da Jeannines Job von Anfang an auf November 2010 befristet war, terminierte ich meinen Vertrag auch auf November, obwohl das Projekt dann in der heissesten Phase war. Das war etwas schade, denn ich mache Sachen gerne fertig. Vor zwei Wochen ging ich aber für einen Nachmittag zu Veda zurück, um das Team ein letztesmal zu treffen und mir das nun fast fertige Produkt vorführen zu lassen. Es kommt gut!

Bild Stand Oktober 2010 (veraltet)

War es eine gute Erfahrung?

Und wie! Obwohl der Projektleiter ein Ei war und von Software-Spezifikation und -Bau keine Ahnung hatte, jedoch überall mitentscheiden wollte. Das führte zu vielen einer Erbsenzählerei und nützte das Team ab. Aber weil das Projekt anfangs arg in Schwierigkeiten war, konnte ich massgeblich mithelfen, es auf konzeptuell und technisch gute Schienen zu stellen.

Die Arbeitsumgebung war fundamental anders, das hat mir gefallen (Blog-Eintrag), auch wenn ich mir noch einen neuen Anzug kaufen musste. Das Team bestand aus drei Australiern, einer Australierin, zwei Malaien, drei Russen, einem Serben, drei Indern, einem Amerikaner und mir.


 

Wie funktionierte das Projekt im Vergleich zur Schweiz?

Das Projektvorgehen war fast identisch, denn die IT ist global ziemlich ähnlich aufgestellt. Ich kann nicht sagen, ob die Unterschiede generell mit Australien zu tun hatten, oder ob das in der Schweiz von Firma zu Firma nicht sogar mehr variieren könnte.

Was war der kulturelle Hauptunterschied?

Wie ich bereits früher angetönt hatte: die Leute tun sich schwerer, Verantwortung zu übernehmen; es ist immer der Drang da, bald Resultate zu liefern, auch wenn die Qualität sichtbar darunter leidet; statt Fehler zu analysieren und auch mal jemandem auf die Finger zu klopfen, klopft man sich eher gegenseitig auf die Schultern; und wenn der Tag zu Ende ist, geht man nach Hause und lässt die Arbeit im Büro. Jemand zuhause anrufen erfordert eine echte Ausnahmesituation. Sie wollen in ihrer Freizeit nicht gestört werden. Trotzdem: wir hatten mehrheitlich gute und arbeitswillige Leute im Projekt.

Wie schwierig war es eigentlich, einen Job zu finden?

Ich habe etwa sechs Wochen gebraucht, ca. 20 Bewerbungen eingereicht und mich dreimal vorgestellt. Fast alle Stellen werden online ausgeschrieben, und man bewirbt sich per Email oder über spezielle Online-Plattformen. Das war für mich sehr praktisch.

Ich musste mich zuerst in das Thema "Job finden" einarbeiten, denn ich hatte mich seit 18 Jahren nicht mehr beworben … Meine Erfahrung hat letztlich nicht so sehr gezählt, wie ich mir das erhofft hatte. Wenn die Skills da sind, wird man zum Interview eingeladen, sonst nicht. Deshalb wird im CV grosszügig aufgezählt. Und ich musste lernen, dass das CV letztlich nur dazu da ist, einem einen Interview-Termin zu verschaffen. Mit jeder Bewerbung sendet man einen Brief (covering letter), in dem man darlegt, dass man genau die richtige Person für die ausgeschriebene Stelle ist. Alles entscheidend ist aber das Interview, oft sind es mehrere mit verschiedenen Leuten.


Wie sind die Anstellungsbedingungen?

Generell wird mehr an Contractors vergeben und weniger fest angestellt. Erstere verdienen dann nur die Tage, an denen sie arbeiten. Lustig ist für die Festangestellten das Konzept der sickies (Kranktage), von denen man vertraglich typischerweise zehn pro Jahr zugute hat. Die nimmt man, wenn man selbst oder ein Familienmitgliede krank ist. Fast niemand lässt ungenutzte sickies verfallen, und das wird auch so verstanden. Man erhält am Morgen vom Teamleiter dann auch mal eine Email, "Clark is unwell today and will not be in", und eigentlich weiss jeder, dass der Wind heute gut ist und das Clark gerne windsurft … Und keiner wird am Folgetag Clark zu seinem Gesundheitszustand befragen und diesen so zu einer Notlüge zwingen.

Wie war das Lohnniveau?

Das ist klar tiefer als in der Schweiz. Aber ich hatte von der ausgeschriebenen Rolle her auch nur technische Verantwortung. Projekte leiten wollte ich nicht, weil man da die Kultur und die Firma gut kennen muss, sonst ist es ein Kampf gegen Windmühlen. So kann ich den Lohn nicht 1:1 vergleichen. Gewisse Spezialisten verdienen auch in Melbourne über 150'000 Franken pro Jahr.


Und nun die Preisfrage: würdet Ihr so etwas noch einmal machen?

Nach der Erfahrung in Melbourne müsste die Frage eher lauten, wann macht Ihr das nächstes Mal? Unbedingt, war super!

Wieder Australien?

Eher nein, das hatten wir jetzt. Spanien, Argentinien oder Neuseeland wären nämlich auch ganz interessant. Aber Australien ist ein gutes Land, um Arbeitserfahrung ausserhalb der Schweiz zu sammeln.


(Fortsetzung und Schluss: Teil 5, Reisen)

Samstag, 5. März 2011

Interview — Teil 3

(Dieser Teil des Interviews wurde im Flughafen von Dubai geführt, aber mangels aktuellem Bildmaterial fehlt das Bild ...).

Teil 1
Teil 2

Leben in Melbourne


Coooo-eeee: Was unterscheidet Melbourne von Bern?

Oliver: Zuerst sicher die Grösse, sowohl einwohner- wie auch flächenmässig. Die 3.8 Millionen Leute wohnen vorwiegend in Einfamilienhäusern, welche sich wie in Teppich vom Meer bis in die Hügel gut 20 km dahinter erstrecken. Was in Bern die Altstadt ist, ist in Melbourne der CBD (Central Business District), aber statt Sandsteinbauten sind es Wolkenkratzer.
Viele werden jetzt wohl sagen, in einer so riesigen Stadt ist man doch nur eine Nummer. Das stimmt in gewissem Masse, aber jedes Quartier ist in sich auch wieder eine kleine Stadt. Mit einer eigenen Poststelle, eigenen kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants, Supermarkt, etc.. In Prahran gab es zudem den Prahran-Market (Blog-Eintrag von Jeannine). Bereits nach wenigen Wochen wird man von der Postangestellten, vom Barman oder der Gemüseverkäuferin wiedererkannt, und es fühlt sich nicht anders an als in Bern.
Das Meer hat uns sehr gut gefallen; mit dem Velo war es nur 15 Minuten bis zum Strand. Jogging um den und Rudern auf dem See im Albertpark (Blog-Eintrag hier und hier) fühlte sich so gar nicht wie in einer Millionenstadt an.
Wollten wir allerdings aus der Stadt raus, dann waren es nach Osten eine Stunde und nach Westen zwanzig Minuten Autofahrt.

Wie war das Autofahren im Stadtverkehr?

Anders … die Autofahrer sind sehr geduldig und hupen kaum, wenn man mal im Weg steht. An das Linksfahren gewöhnt man sich schnell. Das spezielle am Verkehr in Melbourne ist, dass man als universelle Regel immer in der falschen Spur fährt (meist hat es zwei in jede Richtung). Fährt man in der linken Spur, dann stehen dort nach der nächsten Kreuzung oder Kuppe plötzlich parkierte Autos. Mit 60 km/h muss man dann schnell reagieren, sonst ist man "gefangen". Fährt man hingegen in der rechten Spur, dann will plötzlich vorne dran einer rechts abbiegen, kann aber wegen dem Gegenverkehr nicht, und man kommt wiederum zum Stehen.

Und dann sind da noch die Trams, die stets in der rechten Spur fahren: fährt man in der linken Spur, und das Tram vor einem hält, dann darf man nicht links vorbeifahren, weil die Fahrgäste auf die linke Spur aussteigen; fährt man in der rechten Spur und das Tram vor einem hält, dann hält man notgedrungen auch. Da hilft nur Geduld.
Es ist also eine Art strategisches Spiel mit häufigem Spurwechsel. Am Ende bringt es dann doch selten etwas.

Und im CBD ist da noch der gefürchtete Hook-Turn. Will man in einer zweispurigen Strasse mit Tram nach rechts abbiegen, muss man links (sic!) einspuren. Hat man dem Punkt zum Abbiegen erreicht, hält man an und wartet, bis die Ampel auf rot geht. Das stoppt natürlich auch den Gegenverkehr, und JETZT biegt man rassig über die rechte Spur hinweg ab, bevor die Querstrasse grün hat. Wer gleichzeitig hinter einem links abbiegen wollte, hat Pech gehabt und muss warten …

 Das ominöse Signal: RIGHT TURN FROM LEFT ONLY

Die drei Autos links haben bis jetzt links gewartet, nun biegen sie rechts ab.

Melbourne scheint eine beliebte Stadt zu sein.

Die Sydneysider machen zwar faule Sprüche, aber Melbourne ist dennoch am Wachsen wie verrückt! Am Stadtrand kann man fast zuschauen, wie sich die Stadt in alle Richtungen ausdehnt. Wo vor zwei Jahren noch eine trockene Schafweide war, ist heute ein kleiner See, ein Einkaufszentrum, eine Einkaufstrasse mit aller Art von Geschäften, und darum herum steht eine grössere Zahl von ein- und zweigeschossigen neuen Häusern. Es ist erstaunlich, wie die Stadt mit dem Wachstum fertig wird. Leider kann der öffentliche Verkehr nicht mithalten. Die Regierung von Victoria versucht allerdings aktiv, neue Zuwanderer in die anderen Städte Victorias umzuleiten. Das Nationengemisch in der Stadt ist unglaublich.



Wart Ihr wohl in Melbourne?

Ja, sehr. Ein extrem guter Lifestyle gepaart mit der attraktiven Umgebung (Parks, Meer, Berge, Wälder, Seen, Flüsse, etc.) lädt schon zum Verweilen ein. Melbourne ist nicht so anstrengend wie z.B. Manhattan, wo das Leben in fast unverändertem Takt über 24 Stunden pulsiert, obwohl in Melbourne die Supermärkte auch sieben Tage in der Woche von 6 bis 22 Uhr geöffnet sind. Man kann aber mit dem Velo nicht einfach in 20 Minuten an den Wohlensee entfliehen.

Habt Ihr dort in den 15 Monaten ein soziales Netz aufgebaut?

Nein, es wäre übertrieben, das zu sagen. Die Australier trennen ziemlich strikt zwischen Arbeit und Freizeit. So konnten wir am Abend und übers Wochenende nicht einfach "an unsere Arbeitskollegen andocken", obwohl das gelegentlich möglich war. Es war eine gute Entscheidung, dem Range-Rover-Club beizutreten: dort lernten wir viel übers Geländefahren; nahmen an gemeinsamen Ausfahrten und den monatlichen Club-Meetings teil; halfen mit, einen 34-jährigen Range Rover zu restaurieren; und lernten so recht viele interessante Leute kennen. Speziell Catherine und Peter werden uns hoffentlich als Freunde weiterhin erhalten bleiben.

Ich kann es allen empfehlen, fast egal welchem Club beizutreten und dort mit Gleichgesinnten Zeit zu verbringen. So lernt man die Australier bei dem kennen, was sie am liebsten tun und wo sie auch dementsprechend offen sind.

Was hat Dir an Melbourne am besten gefallen?


Die Café- und Restaurant-Szene; die Arkaden im CBD; und die vielen Parks, vor allem der Botanische Garten. Aber Melbourne ohne das umgebende Victoria wäre nicht halb so lebenswert. Victoria wird zu unrecht bei Australienreisen "übersehen", dabei hat es viel, viel mehr zu bieten als nur die Great Ocean Road!


(Fortsetzung: Teil 4, Arbeiten in Melbourne)

Donnerstag, 3. März 2011

Interview — Teil 2

(Fortsetzung von Teil 1: Aussie & Aussies)


Coooo-eeee: Welche Werte sind den Australiern wichtig?

Oliver: Die Regierung fördert aktiv die multikulturelle Gesellschaft: eingewanderte Familien werden ermutigt, die Kultur ihres Herkunftslandes zu pflegen aber gleichzeitig die englische Sprache zu sprechen, die australische Kultur kennenzulernen und sich am öffentlichen Leben zu beteiligen. Gerade Melbourne ist extrem offen für Zugereiste, wie wir das waren. Es ist kein Nachteil, erst seit ein paar Monaten im Land zu sein; was zählt sind die Fähigkeiten und der Wille, mitzuhelfen als Firma oder als Nation erfolgreich zu sein.

 Klicken für Vergrösserung


Kritik ist nicht so gerne gehört — man sagt lieber, was gut ist.

Die Familie hat einen sehr hohen Stellenwert, und es ist für Familien mit westlicher Abstammung nicht ungewöhnlich, drei oder vier Kinder zu haben. Die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau ist aber eher traditionell, auch wenn die Frauen im Geschäftsleben "gleicher" gestellt sind als in der Schweiz. Teilzeitanstellung ist viel weniger gebräuchlich als in Europa und für Männer nur selten möglich.

In der Freizeit sind Beruf und Herkunft einer Person kaum ein Thema, wichtiger ist der Charakter. Dafür zählen Statussymbole umso mehr: das grosse Haus, das grosse Auto, das grosse Boot, die lange Antenne auf dem 4x4, etc.  Das ist ein eher einfach gestricktes Muster. Ah, und das Auto oder Boot muss immer tiptop sauber gepützelt sein. Detailing nennt sich das, und es gibt in Melbourne hunderte von Kleinstfirmen, die sich darauf spezialisiert haben. Das eigene "Detailing" ist übrigens auch den Frauen extrem wichtig ;-)

Bleiben wir doch noch einen Moment bei den Mustern ...

O.K., gut, da habe ich schon noch ein paar Beobachtungen. Die Leute leben allgemein mehr in Schemen als in Europa. Man hat sich sozusagen damit arrangiert, nur eine "Nummer" zu sein. Es besteht weniger der Drang nach Individualität, die in der Schweiz manchmal etwas verkrampft wirkt. Der Australier ist eher stereotyp, d.h. man findet leicht Leute mit denselben Lebens- und Ausdrucksmustern. Das ist ja ein bisschen überall so, jedoch scheinen mir einige dieser Stereotypen eher abgegriffen und überlebt. Das kann man an den Männern und ihren Autos gut beobachten (Blog-Eintrag). Ebenso: alle Töfffahrer tragen lange Tarnhosen; stundenlang über Fischen oder Footy diskutieren und dazu ein Bier nach dem anderen Trinken, etc. Ähnliches gibt es bei den Frauen auch.

Wo man in der Schweiz eher die Nische sucht, wollen sich die Australier mit den anderen messen. Firmen gleicher Art haben ihr Geschäft an der gleichen Strasse; Kumpel haben (fast) dasselbe Auto; Frauen (fast) dieselben Schuhe. Man ist dafür mehr darauf fokussiert, die eigenen Vorteile herauszustreichen und die Schattenseiten einfach auszublenden. Das können sie gut, und da haben wir als Schweizer keinen "Stich" — wir halten uns ewig mit den Mängeln auf und übersehen dafür das Herausragende.

Die Frauen versuchen, Frauen zu sein statt sich an den Männern zu orientieren. Make-up, Frisur, High-heels und kurze Kleider sind die Mittel. Die Finger- und Zehennägel lassen sie in einem der tausend Studios pflegen. Und am Freitagabend ist alles nochmals etwas extremer.

Während im Geschäftlichen Mann und Frau möglichst gleich auftreten und behandelt werden wollen, ist es im Privaten genau das Gegenteil. Am Abend trifft man viele reine Frauengruppen oder Männergruppen, die ganz andere Interessen haben (girlie thing, bloke thing) und sich ganz anders verhalten.


Die Männer haben ein Identitätsproblem und scheinen nicht mehr zu wissen, ob sie Macho oder Softie sein sollen. So gibt es beide Sorten und alle Zwischenstufen. Den Crocodile Dundee findet man allerdings nur noch selten. Ich glaube, in der Schweiz eifern die Männer weniger eine Rolle (role model) nach und fühlen sich ehrlich gut so, wie sie ihr Leben arrangiert haben. Diese Rollen-Prototypen ziehen sich in Australien auch in die Familie hinein, wo die Frau von den Männern öfter als Kontrollinstanz hingestellt wird (z.B. "the handbrake" genannt), nach dem Motto, "ich kann mir keine neuen Felgen fürs Auto leisten, weil meine Frau das nie zulassen würde". Das führt dann zu Spannungen und Unzufriedenheiten, die nicht sein müssten, weil die Frauen mit dieser Rolle nämlich auch nicht zufrieden sind. Aber die materiellen Zwänge und die Statussymbole verlangen nach Ausgaben, die das Budget zum (Über-) Leben zu sprengen drohen. Eine billige Wohnung zu mieten ist nicht möglich, weil kein Angebot besteht. So haben die meisten ein Haus mit einer Hypothek, die sie zum Geldverdienen zwingt. Dem kann man sich nicht einfach entziehen.

Ist Australien eine materialistische Gesellschaft?

Ja, finde ich. Es ist unheimlich, welche Masse an Konsumgütern viele Familien besitzen. Mindestens zwei Autos, mehrere Flachbildfernseher, mehrere Computer, ungezählte Mobiltelefone, riesige Kühlschränke, Maschinen für alles und jedes, ein Motorboot, einen Anhänger, einen Motocrosstöff, ein Wohnwagen, etc. Garagen und Hinterhöfe voll Zeug. Sie würden sich besser mehr Velos kaufen als mehr Motorisiertes.


Obwohl es viele Australier gibt, die zwei oder sogar drei Jobs haben, um der Familie das Überleben sichern zu können, hat der Durchschnitt — mindestens in den grösseren Städten — einen sehr hohen Lebensstandard. Sehr viele neue und teure Autos sind unterwegs.
Wie schon erwähnt, hat Australien die Finanzkrise ziemlich unbeschadet überstanden. Eine Massnahme der Regierung war, jedem Bürger 500 Dollars (oder so) zu schenken, damit er sie ausgibt. Das hat natürlich vor allem den Konsum gefördert, aber das war auch das Ziel.

Was waren Eure Erfahrungen mit den Behörden?

Da kann ich wirklich nicht viel Negatives sagen. Da es traditionell sehr viele Leute gibt, die weit von Städten und Ämtern weg wohnen, konnte man schon immer das Meiste übers Telefon erledigen. Nun ist es das Internet. Es gibt fast alles online, und die Formulare sind stets übersichtlich und klar erklärt. Ich möchte das von der Schweiz auch sagen können ...

Unser Arbeitsvisum hatten wir in weniger als drei Wochen; es kam als Email. Das war's; kein Aufkleber im Pass oder so. Unbürokratisch, sozusagen. Einwanderer und Visas sind ein Geschäft für den Staat, das muss man klar sehen, da lohnt sich Effizienz.

Die Steuererklärung scheint einfacher als in der Schweiz (wir liessen sie beide machen); zwei Wochen später waren wir definitiv veranlagt, und die zu viel bezahlten Steuern (Quellensteuer) wurde innert zehn Tagen erstattet.

Einzig während ich versuchte, unser Auto zu versichern, war ich dem Schreien nahe. Es wusste bei VicRoads (Strassenverkehrsamt von Victoria) einfach keiner, was sie mit einem Schweizer Fahrzeug tun sollten. Und bei jedem Anruf ist man wieder für zehn Minuten in der Warteschlange. Schliesslich wusste es doch eine Frau, die lange genug dabei war.


Woran hast Du Dich nicht gewöhnen können?

Oftmals denken die Leute einfach nicht und folgen einer übervereinfachten Vorschrift, die man ihnen einmal eingetrichtert oder auferlegt hat. Am meisten ärgert mich das, wenn es um Sicherheit geht, oder sollte ich besser sagen, Scheinsicherheit. Das führt am Ende dazu (wie in diesem Blog-Eintrag ausgeführt), dass keiner mehr Verantwortung übernehmen oder ein Risiko eingehen will, weil man ihm sonst vielleicht das Nichteinhalten einer Vorschrift nachweisen könnte, die so allgemein gehalten ist, dass alles darunter fallen muss. Es ist diese Kultur der Absicherung ("cover ass"), die mich stört.
Im Flughafen Melbourne erklärte ein Herr mit Mikrofon den Wartenden, dass nur maximal 100 ml Flüssigkeiten mit in die Flugzeugkabine genommen werden können. Und als Mass nehme man die auf die Packung aufgedruckte Menge, nicht den effektiven Inhalt. Dazu hielt eine fast ausgedrückte Tube mit Aufdruck 150 ml in die Luft, und fügte beinahe stolz an, "we will take this away from you!".

Das zweite ist der sogenannte quick win — alle wolle immer den schnellen return on investment, und wenige sind bereit, in Qualität zu investieren. Das hätte eigentlich bei den Werten noch anfügen sollen. Ich muss sagen, dass ich auch oft beeindruckt war, wie man in Australien Probleme auf pragmatische Art und ohne grosse Ausgaben löst. Allein das Argument, dass eine Lösung qualitativ besser ist als eine andere, reicht nicht. Es wird vorsichtiger abgewogen, ob sich die Qualität auch rechnet, was eigentlich gut ist. Problematisch — oder schon fast fatal — wird es aber, wenn die Periode für die Amortisation nur ein, zwei oder drei Jahre sein darf. Dann muss alles Visionäre sterben. Die Regierung kann fast keine Projekte angehen, die sich nicht innert einer Amtsperiode umsetzen lassen, sonst steht sie vor der nächsten Wahl ohne greifbare Resultate (achievements) da und wird nicht wiedergewählt.


Umweltschutz gehört auch in diese Kategorie. Praktisch der ganze Strom, den Victoria verbraucht — und das sind immerhin 5.5 Mio Einwohner — stammt aus Braunkohle. Und das bei all der Sonne, dem Wind und der Wellenkraft, die verfügbar wären. Häuser sind kaum isoliert und müssen im Sommer bei Temperaturen von bis zu 45°C gekühlt, im Winter geheizt werden. Viele Autos haben durstige 6- oder 8-Zylindermotoren. Rezyklierbarer Abfall wird zwar eingesammelt, aber der grosse Rest wird deponiert und nicht etwa verbrannt (Wärmerückgewinnung). Es ist auf kurze Frist eben günstiger, weiter zu verfahren wie bisher. Zu allem Überdruss haben die Aussies dann auch noch das Gefühl, sie seien unter den Weltbesten, wenn sie ein bisschen Abfall trennen.

Was hast Du an den Australiern besonders schätzen gelernt?

Sie sind wirklich sehr offen und hilfsbereit und lassen einem teilhaben an ihrem Leben. Wir fühlten uns jederzeit willkommen. Wenn man mal ein bisschen smalltalk mit einem Australier gemacht hat, dann gibt er einem auch noch einen Geheimtipp, was man unbedingt tun oder sehen muss. Das ist wirklich toll.


(Fortsetzung: Teil 3, Leben und Arbeiten in Melbourne)

Mittwoch, 2. März 2011

Interview with self — Teil 1

Coooo-eeee hat Oliver in Neuseeland zu einem Interview getroffen.

Coooo-eeee: Australien ist ja das Traumauswanderungsland vieler Europäer. Kommt Ihr überhaupt in die Schweiz zurück und für wie lange?

Oliver: Nun, es war ja immer unser Plan, nach einem Jahr Arbeiten und etwas Reisen wieder zurückzukehren. Wir haben die Wohnung in Bern behalten, und Jeannine ist bereits in China, wo sie mit ihren alten/neuen Chef zusammen eine Fabrik von ABF besucht. Deshalb: ja, wir gehen zurück und zwar am kommenden Samstag.


Habt Ihr mit dem Gedanken gespielt, länger zu bleiben?

Das haben wir in der Tat. Wir könnten es uns durchaus vorstellen, auch mal ein paar Jahre in Australien oder einem anderen Land zu leben. Auswandern würde ich das aber nicht nennen, das tönt so definitiv.

Und weshalb nicht gleich jetzt verlängern?

Es war von Anfang an alles auf diese 15 Monate ausgerichtet. Unsere Arbeitsverträge liefen nur bis November, und unser Auto konnte nur bis März 2011 in Australien bleiben. Da wollten wir natürlich davon profitieren, so lange es verfügbar war. Es schaukelt jetzt schon wieder der Schweiz entgegen.


Jeannines Arbeit war gut für ein Jahr, aber sie hätte den Vertrag nicht verlängert. Dann war auch unsere Wohnung in Bern befristet untervermietet. Und last but not least freuen wir uns auch darauf, unsere Freunde und Familie wiederzusehen.


Aussie & Aussies 

Wie hast Du Eure Zeit in Australien erlebt?

Ich bin sehr positiv überrascht. Wir hatten ja schon länger mit dem Gedanken gespielt, einmal ein oder zwei Jahre im Ausland zu arbeiten, haben aber nie konkret etwas unternommen. Ich muss ehrlich sagen, dass wir uns ziemlich sicher nicht Australien dazu ausgesucht hätten. Jeannine und ich waren, unabhängig von einander, in den frühen 90er-Jahren in Australien gewesen und danach mehrere Male länger in Neuseeland, welches wir von den Menschen her als interessanter erlebten.

Dann bist Du mit gewissen Vorbehalten nach Australien gekommen?

Ich habe bewusst versucht, genau dies nicht zu tun, und offen zu sein für Kultur, Leute und Sitten. Während ich von früher den Eindruck mitgenommen hatte, dass sich die Australier im Allgemeinen nicht um den Rest der Welt kümmern und auch nicht viel darüber wissen (ganz im Gegensatz zu den Neuseeländern), musste ich mit Erstaunen feststellen, wie viele Australier, die wir kennenlernten, bereits in Europa waren oder sogar schon dort gearbeitet hatten.

Die Australier als poliglottes und weltgewandtes Volk also?

So weit würde ich nun auch wieder nicht gehen, und ich muss da auch vorsichtig sein. 1992 trat die Schweiz an der Weltausstellung in Sevilla mit dem Slogan auf, "La Suisse n'existe pas". Das hat damals viele Schweizer empört, weil sie den Sinn nicht erfassten, denn die Betonung lag auf dem "La", Die Schweiz. Dasselbe gilt auch für Australien. Es ist so vielgestaltig und vielschichtig, dass ich nach einem Jahr insgesamt nur wenig gesehen habe. Wenn ich im Folgenden Australien oder Australier sage, dann kann ich eigentlich nur über Melbourne und Victoria eine etwas fundiertere Aussage machen.

In Sachen Konsum ist Australien sicher ganz vorne dabei. Und "dank" der Globalisierung sind hier alle Weltmarken vertreten und bekannt. Australien hat sich ziemlich gut aus der Finanzkrise rausgehalten, die Löhne sind sogar gestiegen und der Nationalstolz zu recht auch. Letzterer ist allgegenwärtig und führt teilweise zu einer Blindheit, die man in der Schweiz und in den USA auch beobachten kann: was von aussen kommt, kann nichts sein. Dies vor allem, weil man nicht über den Tellerrand hinausschaut, bzw. das andere nicht besser kennt, oder weil es "immer schon so war". Overseas und Europe bedeuten in Australien oft nicht Rest der Welt, respektive Europa, sondern meist nur Grossbritannien, weil viele halt nur das kennen oder nur Studien von dort in Betracht ziehen. Jeannine könnte ein Lied davon singen.

Wer oder was interessiert die Australier dann vor allem?

Vor allem Australien und die Australier selbst. Die lokale Politik und Wirtschaft hat den grössten Stellenwert, etwa gleichauf mit Persönlichkeiten aus Sport, Politik und Gesellschaft. Die internationale Politik scheint nur insofern bedeutsam, als dass Australien betroffen ist. In The Age, der grössten Tageszeitung in Melbourne, bringen es die internationalen Neuigkeiten gerade mal auf drei Seiten von über fünfzig, und sogar dort geht es dann oft eher um Oprah Winfrey als um die Finanzkrise in der EU. Mittlerweile wird wirtschaftlich mehr auf Asien geschaut als auf die USA und Europa. Das ist auch klar, denn fast alle Güter des täglichen Gebrauchs kommen aus China.
Oft fand ich auch die Gewichtung von Themen schräg. In Melbournes meistgehörtem Radio, Radio 101.1, dominieren in den 07:00-Uhr-Nachrichten Schlagzeilen wie, "Two cats died in a house fire in Saint Kilda tonight", während am Tag zuvor der US-Dollar abgestürzt war, was unerwähnt blieb.
Fairerweise muss ich aber anfügen, dass sich Australien z.B. in Afghanistan militärisch überproportional stark engagiert und australische Soldaten dort ihr Leben verlieren.

Wie kann man Australiern eine Freude machen?

Indem man das Land rühmt, das kommt immer gut an. Ist in der Schweiz ja auch ein bisschen so. Wenn einem etwas nicht so gefällt, dann schweigt man aber besser und äussert sich über etwas, was einem wirklich gefallen hat, denn davon gibt es immer genug.


Und wie macht man Australiern keine Freude?

Wenn man ein Gespräch über die Aboriginees anreisst. Das ist ein so riesiges, ungelöstes Problem, wo alle hilflos sind und am liebsten nicht darüber sprechen. Ebenfalls keine Freunde schafft man sich, wenn man ein Witzchen macht, das auf die Strafkolonien vor 200 Jahren anspielt. Das ist etwa, wie wenn ein Deutscher in der Schweiz "zwanzig Fränkliii" sagt.

(Fortsetzung: Teil 2, Aussie & Aussies)

Mittwoch, 23. Februar 2011

Wooden-Boat Festival

Das Wooden-Boat Festival in Hobart ist, vereinfacht gesagt, ein Anlass zur Förderung von Holzbooten aller Art. Grosse, kleine, alte, neue, renovierte; Segelboote, Ruderboote, Motorboote, Kajaks — you name it. Vier Tage lang brodelt es im und um den Hafen im Stadtzentrum. Der Eintritt ist gratis.


Es wird ausgestellt, vorgeführt, ausgebildet, angepriesen, gefragt, gefeilscht, gesegelt und ... vor allem geschaut.


Die oft von Privaten und Hobbyschiffsbauern hergezeigte Fertigkeit ist ganz erstaunlich.



 Holzkajaks mit Wandstärken von nur 3 oder 4 Millimetern werden vorzugsweise mit einer hauchdünnen Glasfaser-und-Harz-Haut überzogen, die von blossem Auge kaum erkennbar ist.

Es gibt aber auch Demonstrationen, wo Profis zeigen, wie's richtig gemacht wird.


Besonders angetan hat es mir Peter Ingram-Jones mit seinen ultraleichten Kanus (7 kg, um AU$ 4000), wo schon der Name der Firma Bände spricht:



Im Sommer ein Kanu, im Winter ein Lampenschirm: www.canoesandlampshades.com. Sein Stand war eine Augenweide, da er offenbar ebenso gut fotografiert wie Boote baut.



Am besten gefallen hat mir aber die Quick'n Dirty Boat Building Challenge, in der Gruppen von Jugendlichen in drei Stunden selbst ein Holzboot bauen, es am Folgetag anmalen und schliesslich in einer kleinen Regatte ausprobieren.



Gebaut wird mit 4mm-Sperrholz, 40x20mm-Latten, Nägeln, Kabelbindern und Dichtmasse; keine Schrauben, keine Seile. Erwachsene sind nicht zugelassen, Betreuer helfen, wenn's nicht mehr weitergeht.


 Sogar ein sogn. Outrigger wurde gebaut.

So wird die nächste Generation von Holzbootsbauern an das Handwerk herangeführt!

Dienstag, 15. Februar 2011

Wooden-Boat School

Als alter Bootsbauer ... ok, ich habe für den Kingcat M270 nur die Bits und Bytes richtig sortert ... freute es mich zu sehen, dass das Interesse an Booten und die hohe Kunst des Schiffsbau mit Holz in Tasmanien hoch gehalten wird.


Tasmanien hat eine lange -- und teilweise kontroverse -- Geschichte in der Holzgewinnung1; wertvolle Hölzer waren schon vor 200 Jahren ein wichtiger Motivator in der Entwicklung und Besiedlung der Insel und sind es bis heute geblieben.

Das wertvollste und von Bootsbauern, Möbelschreinern und Zimmerleuten am meisten geschätzte Holz ist die Huon Pine, welche nur in Tasmanien vorkommt. Die Huon Pine wächste nur ein paar Zentimeter pro Jahr, hat ein relativ leichtes und einfach zu bearbeitendes, gelbliches Holz. Huon Pines sind geschützt, weil sie mehrere hundert Jahre wachsen müssen, bevor sie genutzt werden können, die ältesten Exemplare sind weit über 1000 Jahre alt. Was das Holz vor allem einzigartig macht, ist sein hoher Gehalt an Methyl-Eugenol, welches es praktisch verrottungsfrei macht.

Neben der Huon Pine gibt es noch weitere tasmanische Hölzer wie die King William Pine oder das Celery Top Wood, welche im Bootsbau eingesetzt werden. Tasmanien hat wohl eine lange und erfolgreiche Schiffbautradition, welche aber mit der Einführung von Kunststoffschiffen mehr und mehr verdrängt wurde.
In den letzten 20 Jahren wurden dieses Wissen und Handwerk jedoch gezielt wieder gefördert und ihr Image verbessert. Ein Idealist in Franklin (Google Maps) die Wooden-Boat School gegründet, welche einen ausgezeichneten Ruf erlangt hat.


Es gibt sogar Stipendien, aber den Hauptanteil der Kosten dieser 18 Monate dauernden Ausbildung bezahlen die Teilnehmer selbst. Pro Lehrgang nimmt die Schule ein Bootsprojekt an, das von einer Privateperson gesponsert wird. Gebaut wird ausschliesslich in Huon Pine.




Hier geniesst die Schule ein Sonderrecht, denn der Staat Tasmanien sorgt dafür, dass sie das benötigte geschützte Holz erhält. Es kostet roh 8500 Dollar pro Kubikmeter; die reinen Materialkosten für ein solches Schiff betragen meist um die 500'000 Dollar. Dafür erhält der Sponsor am Ende das fertige Schiff, das leicht das doppelte wert ist. Zum Abschluss des Lehrgangs wird das fertige Boot in einem Dorffest getauft und zu Wasser gelassen. In vier Wochen ist es wieder so weit.


Das Wooden-Boat Centre, in dem die Wooden-Boat School zuhause ist, verfügt über einen Showroom und bietet Führungen an, die sich sehr lohnen. Es ist erstaunlich, mit welchem Elan und Eifer hier im Süden Tasmanien wieder Holzboote aller Art entworfen, gebaut, gehandelt und gebraucht werden. Die Krönung ist das zweijährlich veranstaltete Wooden Boat Festival im Hafen von Hobart, welches vergangenes Wochenende stattfand. Aber mehr dazu im nächsten Eintrag.

1 Naturschutzorganisationen kämpfen für Erhaltung und gesetzlichen Schutz der alten Wälder, Holzfirmen vollen sie "nutzen", sprich roden und danach rasch wachsende Monokulturen (v.a.Nadelhölzer) anbauen.

Mittwoch, 9. Februar 2011

Freie Sicht auf den Candle Stick

Der Candle Stick (dt. Kerze; Bildmitte) hat seinen Namen zu recht erhalten:


Man kriegt ihn nur nach knapp zweistündiger Wanderung und etwas waghalsigem Herauslehnen über den Abgrund zu sehen. Warnschilder, Abschrankungen oder sogar Gitter gibt es keine. Das ist erstaunlich, gehört die Wanderung zum Cape Hauy / The Lanterns doch zu den 60 durchwegs schönen Kurzwanderungen von Tasmanien (15 Minuten bis 6 Stunden) und ist einigermassen gut frequentiert.


Natürlich wird in den track notes vor exponierten Wegen gewarnt und man solle Kinder nie aus den Augen lassen. Und ebenso natürlich hat es am trail head das obligate Warnschild.



Oft findet man solche Schilder auch unterwegs, und obwohl wir nun schon viele davon zu Gesicht bekamen, haben wir uns an deren Existenz noch nicht gewöhnt.


Australien folgt nämlich dem schlechten Vorbild der USA und entmündigt die Bürger in beängstigendem Ausmass, die Gerichte unterstützen resp. fördern diese Kultur mit ihrer Rechtssprechung. Bis vor ein paar Jahren konnte man die Aussicht des Genoa Peak (Croajingolong National Park) noch unvergittert geniessen, inzwischen hat sich die Nationalparkverwaltung vor potentiellen Klagen geschützt.



Bevor wir in Sheffield den Audio Guide LINK ausgehändigt erhielten, mussten wir schriftlich erklären, dass wir die zehn (!) Warnungen und Vorschriften auf dem Blatt gelesen und verstanden hatten, und dass wir im Schadenfall nicht gegen das Touristeninformationsbüro klagen würden, welches uns die Gerätchen vermietet hatte. In Colac (Victoria) gibt es einen schönen Veloweg entlang einer ehemaligen Bahnstrecke. Ein pfiffiger Campingplatzhalter vermietet nun Velos nicht an Touristen, er verkauft sie ihnen mit garantiertem Rückkaufpreis. Die Preisdifferenz entspricht dem normalen Mietsatz für ein Velo für einen Tag, aber da das Bike nun temporär nicht mehr dem Verkäufer gehört, ist er von allen Haftungsansprüchen befreit.
Benutzt man den gesunden Menschenverstand (engl. common sense), sind  über 90% aller Warnschilder in Australien überflüssig. Aber mittlerweile ist eine Art Sicherheitshysterie ausgebrochen, und vor allem und jedem wird gewarnt.


Aber nicht nur das: praktisch jeder berufsmässige Strassenverkehrsteilnehmer und Handwerker zieht am Morgen noch vor den Schuhen die gelbe oder orange Leuchtveste an. Und behält sie an, bis er am Abend die Schuhe wieder ausgezogen hat. Wanderer, Kajaker und Velofahrer mögens auch gerne leuchtend. Kinder gehen oder radeln nur noch auf dem Land zur Schule, sonst werden sie vom Schulbus oder von der Mama geführt. In Produktionsbetrieben erhalten Mitarbeiter Bonuspunkte, wenn sie auf potentielle Gefahrenstellen aufmerksam machen; dass der Bürogummi so etwas weniger Gelegenheit hat, sich zu profilieren, versteht sich und ist eine Diskriminierung. Also erhält er seine Punkte, wenn er vorschlägt, dass die Wasserverdunsterbehälter an den Radiatoren regelmässig aufgefüllt werden, weil trockene Luft zu chronischen Atembeschwerden führen könnte.
Und genau deshalb genossen wir es, uns ungesichert über die Klippen zu lehnen, um die spritzende Gischt und den Candle Stick in ihrer ganzen Schönheit geniessen zu können.


Es scheint nun aber doch nicht so, als ob die Nationalpark-Rangers einfach vergessen hätten, Warnschilder oder Zäune anzubringen. Es gibt genau einen Hinweis, "TRACK END 50m", aber wie in der Sackgasse gibt es kein Schild "ENDE DER SACKGASSE" und jeder muss selbst entscheiden, wie weit er noch gehen will. Aber offenbar merken auch die Dümmsten, dass ihnen hier die Versicherung oder die Klage nichts mehr nützen, wenn sie sich zu weit vorlehnen, und die Selbstverantwortung funktioniert von alleine.