Mittwoch, 9. Februar 2011

Freie Sicht auf den Candle Stick

Der Candle Stick (dt. Kerze; Bildmitte) hat seinen Namen zu recht erhalten:


Man kriegt ihn nur nach knapp zweistündiger Wanderung und etwas waghalsigem Herauslehnen über den Abgrund zu sehen. Warnschilder, Abschrankungen oder sogar Gitter gibt es keine. Das ist erstaunlich, gehört die Wanderung zum Cape Hauy / The Lanterns doch zu den 60 durchwegs schönen Kurzwanderungen von Tasmanien (15 Minuten bis 6 Stunden) und ist einigermassen gut frequentiert.


Natürlich wird in den track notes vor exponierten Wegen gewarnt und man solle Kinder nie aus den Augen lassen. Und ebenso natürlich hat es am trail head das obligate Warnschild.



Oft findet man solche Schilder auch unterwegs, und obwohl wir nun schon viele davon zu Gesicht bekamen, haben wir uns an deren Existenz noch nicht gewöhnt.


Australien folgt nämlich dem schlechten Vorbild der USA und entmündigt die Bürger in beängstigendem Ausmass, die Gerichte unterstützen resp. fördern diese Kultur mit ihrer Rechtssprechung. Bis vor ein paar Jahren konnte man die Aussicht des Genoa Peak (Croajingolong National Park) noch unvergittert geniessen, inzwischen hat sich die Nationalparkverwaltung vor potentiellen Klagen geschützt.



Bevor wir in Sheffield den Audio Guide LINK ausgehändigt erhielten, mussten wir schriftlich erklären, dass wir die zehn (!) Warnungen und Vorschriften auf dem Blatt gelesen und verstanden hatten, und dass wir im Schadenfall nicht gegen das Touristeninformationsbüro klagen würden, welches uns die Gerätchen vermietet hatte. In Colac (Victoria) gibt es einen schönen Veloweg entlang einer ehemaligen Bahnstrecke. Ein pfiffiger Campingplatzhalter vermietet nun Velos nicht an Touristen, er verkauft sie ihnen mit garantiertem Rückkaufpreis. Die Preisdifferenz entspricht dem normalen Mietsatz für ein Velo für einen Tag, aber da das Bike nun temporär nicht mehr dem Verkäufer gehört, ist er von allen Haftungsansprüchen befreit.
Benutzt man den gesunden Menschenverstand (engl. common sense), sind  über 90% aller Warnschilder in Australien überflüssig. Aber mittlerweile ist eine Art Sicherheitshysterie ausgebrochen, und vor allem und jedem wird gewarnt.


Aber nicht nur das: praktisch jeder berufsmässige Strassenverkehrsteilnehmer und Handwerker zieht am Morgen noch vor den Schuhen die gelbe oder orange Leuchtveste an. Und behält sie an, bis er am Abend die Schuhe wieder ausgezogen hat. Wanderer, Kajaker und Velofahrer mögens auch gerne leuchtend. Kinder gehen oder radeln nur noch auf dem Land zur Schule, sonst werden sie vom Schulbus oder von der Mama geführt. In Produktionsbetrieben erhalten Mitarbeiter Bonuspunkte, wenn sie auf potentielle Gefahrenstellen aufmerksam machen; dass der Bürogummi so etwas weniger Gelegenheit hat, sich zu profilieren, versteht sich und ist eine Diskriminierung. Also erhält er seine Punkte, wenn er vorschlägt, dass die Wasserverdunsterbehälter an den Radiatoren regelmässig aufgefüllt werden, weil trockene Luft zu chronischen Atembeschwerden führen könnte.
Und genau deshalb genossen wir es, uns ungesichert über die Klippen zu lehnen, um die spritzende Gischt und den Candle Stick in ihrer ganzen Schönheit geniessen zu können.


Es scheint nun aber doch nicht so, als ob die Nationalpark-Rangers einfach vergessen hätten, Warnschilder oder Zäune anzubringen. Es gibt genau einen Hinweis, "TRACK END 50m", aber wie in der Sackgasse gibt es kein Schild "ENDE DER SACKGASSE" und jeder muss selbst entscheiden, wie weit er noch gehen will. Aber offenbar merken auch die Dümmsten, dass ihnen hier die Versicherung oder die Klage nichts mehr nützen, wenn sie sich zu weit vorlehnen, und die Selbstverantwortung funktioniert von alleine.


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