Dienstag, 27. Januar 2015

Mudgee, NSW

Wie ein blindes Huhn ein Korn findet  •  Wo die Visitor Information zuerst gut zuhört  •  Wie ein Famers Market aussieht  •  Warum Mudgee nicht vom Massentourismus überrannt wird

Manchmal trifft man beim Reisen an einem neuen Ort ein, um sogleich zu erfahren, dass gerade am Vortag der im Wochenkalender einmalige Anlass abgehalten oder dass am vergangenen Wochenende der grosse jährliche Event stattgefunden hat. Manchmal ist man aber genau im richtigen Moment an einem Ort und kann sich über einen unerwartetes Highlight freuen. Am vergangenen Donnerstag trafen wir rechtzeitig vor Ende der Öffnungszeit in der Touristeninformation in Mudgee ein. Der Himmel war schon den ganzen Tag wolkenlos gewesen und die Landschaft war immer noch sehr grün, was offenbar sonst im Januar kaum mehr der Fall ist.

Mudgee-Panorama (Klicke mich)

Wenige Tage zuvor wussten wir noch nicht einmal, dass Mudgee existiert, ja, die ganze Region Central New South Wales war uns unbekannt gewesen. Central NSW wurde in den 1830er-Jahren von den Kolonisten besiedelt. Das sind volle 40 Jahre später, als die Kolonie Port Jackson (heute Sydney) gegründet wurde. Der Grund dafür liegt in den Blue Mountains, die etwa 90 km westlich von Sydney liegen, und durch die Tafelberge mit ihren Abbrüchen und tiefen Tälern einen schwer zu überwindenden Riegel vor die Expansion schoben. Zuerst wurden die Städte Bathurst und Orange gegründet, dann wurden die landwirtschaftliche Expansion vorangetrieben. Mudgee wurde 1838 als Gemeinde eingetragen, schliesslich fand jemand Gold, und dann war der Teufel los. Allerdings nicht sehr lange, doch lange genug, dass in der Region einige hübsche Ortschaften mit schönen Gebäuden gebaut wurden.


Palmers Building in Orange

Im November hatte ich beschrieben, dass wir in Melbourne zuerst die Einheimischen aushorchen wollten, bevor wir die Reiseroute für die elf Monate in Australien festlegen, und dass wir im Übrigen gar keine detaillierte Reiseroute planen wollen. Nun, die grobe Route steht mittlerweile, und ich werde sie in einem der nächsten Einträge erläutern. Unser Freund David gab uns den Tipp, dass die Städte Bathurst und Orange “quite nice” wären. Weil wir David mittlerweile ziemlich gut kennen, wussten wir, dass es uns dort gefallen würde. So kamen wir also voller Neugier nach Central NSW und liessen uns seither von den Tipps der locals treiben, was sich einmal mehr auszahlen sollte.

Konkret kamen wir nach Mudgee (10’000 Einwohner), nachdem wir in einem umfangreichen Touristenmagazin über eine clever platzierte, doppelseitige Landkarte der Region Mudgee gestolpert waren, und darauf hin im Reiseführer gezielt über die Gegend nachzulesen begannen. Die Karte zeigte einen Haufen eng beisammen liegender Weingüter, der Reiseführer schlug vor, diese mit dem Velo anzusteuern. Da konnten wir nicht widerstehen. Und weil nicht unsere Informationen darauf beschränkten, war die erste Anlaufstelle, wie gesagt, die Touristeninformation von Mudgee. Die Dame war Spitzenklasse: nicht nur schien sie ihre “Produkte” genauestens zu kennen, sondern sie hörte auch genau hin, was wir zu sagen hatten, und machte stimmige Vorschläge zu weiteren Möglichkeiten. Als wir erklärten, dass kommerzielle Campingplätze nicht unser Ding seien, schlug sie uns die Cullenbone Picnic Area 10 km nördlich der Stadt vor, wo Camping erlaubt ist. Ein wunderbarer Ort am Cudgegong River, den wir fast für uns selbst hatten, und einer der Plätze, wo man abends von den Zykaden in den Schlaf gezirpt und morgens von hundert Vögeln geweckt wird.

Leere Zykadenlarven

Der zweite Vorschlag war der freitägliche Tapas-Event in einem der Weingüter von Mudgee, dem «Lowe organic vineyard, farm & winery» (Link). Wir entschieden uns, diese winery am Morgen gleich als erste anzusteuern, unser Auto dort stehen zu lassen und mit den Velos die Runde zu machen. Die Weindegustation bei Lowe sollte sich als eine der exklusivsten entpuppen, die wir je gemacht haben, mit Spitzenweinen und ausführlichen Kommentaren des Sommeliers. Zum Glück gab es noch freie Plätze für das Tapas-Dinner. Der freundliche Sommelier fragte uns auch, warum wir nicht gleich auf dem Gut übernachteten, damit wir ihre Weine zum Essen auch alle durchprobieren konnten. Die anderen Weingüter konnten zwar in keiner Weise mit Lowe mithalten — sie waren von schrullig über geerdet bis herzlich und gut informiert —, aber wir haben auch nur eine kleine Auswahl besucht. Die Tapas und die Weine waren von bester Qualität, die Abendstimmung im «Zin House» nicht zu übertreffen. Der Besitzer des Weinguts offerierte uns am folgenden Morgen noch eine Dusche — obwohl noch nicht Monatsende war, nahmen wir das Angebot dankend an.



Zin House @ Lowe Winery

Der dritte Vorschlag war der Besuch des Farmers’ Market am Samstag Morgen. Dieser Markt ist etwas weniger formell und durchorganisiert als der Berner Märit auf dem Bundesplatz, dafür von Live Musik begleitet und “farbiger”. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, frisches Brot, Früchte, Gemüse und lokale Produkte wie Konfitüren oder Geisskäse einzukaufen und einen Kaffee zu trinken. In den beiden zentralen Strassen der Innenstadt hat es einige Art-Deco-Gebäude und zahlreiche schöne Cafés.




Kein Art-Deco-Gebäude dafür ein typisches Hotel mit dem obligaten Balkon

Der vierte Vorschlag, den uns am Tapas-Essen auch andere Gäste machen sollten, war ein Ausflug zur Dunns Swamp Camping Area (70 km) im Wollemi-Nationalpark. Obwohl swamp Sumpf bedeutet, hatte es kaum mozzies (Link). Der Campingplatz wird von Eukalyptusbäumen beschattet und liegt am gestauten Lauf des Cudgegong River, der weiter unten durch Mudgee fliesst. Im Kajak kann man die Flussbiegungen und -verzweigungen durchstreifen.




Der fünfte Vorschlag, eine kurze Wanderung durch das Fern Tree Gully (zu übersetzen etwa als “Farntobel”, wobei hier eher “Farnschlucht” zutreffend wäre), war eine schöne Abrundung des Programms.



Die Blue Mountains bilden auch heute noch einen Riegel, und zwar gegen den Massentourismus. Die Region Mudgee wird vor allem von Sydneysidern besucht, die das Besondere und Persönliche suchen. Die Tourbusse für Asiaten und Partyanimals halten sich vorwiegend an die Küste. So haben wir mit Mudgee wieder einmal eine kleine Perle entdeckt, die wir nicht eingeplant hatten. Na ja, auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn.

P.S. Als Hinweis in eigener Sache: seit Dezember sind meine Posts auf der Website zu Google Maps verlinkt. Für meine Leser, die per Email informiert werden: im Mail auf die Überschrift klicken, um auf die Webseite zu gelangen.

Freitag, 16. Januar 2015

Wie man diesen "Gast" loswird

Wie der Kampf gegen Insekten geführt wird • Warum ständig auf der Hut sein auch nichts nützt • Weshalb die Australischen Fliegen so lästig sind • Welcher saugenden Parasit nicht aus der Luft angreift.

Dass man in Australien an vielen Orten — und vor allem beim Campieren — einen konstanten Abwehrkampf gegen Insekten führt, hat sich allgemein herumgesprochen. In Outdoor-Shops und Supermärkten finden sich ganze Regale voll mit Sprays, Salben, Kerzen, Anzündspiralen, etc., die vor Stichen schützen sollen. Citronella, ein “natürliches” Öl, das man sich, so glaubten wir bis anhin, auf die Haut reibt, gibt es im Baumarkt gleich als 4-Liter-Gebinde — wahrscheinlich tränken die Australier ihre Kleider oder das Zelt darin, oder sie verwenden es in Öllampen. Gestern sahen wir bei BCF ("Boating – Camping – Fishing") sogar einen Art Plastik-Tennisschläger, der mit feinen Drähten bespannt ist und die Mücken electronically (sic!) um die Ecke bringen soll.


Man gewöhnt sich relativ bald daran, dass immer irgendwo ein Stich juckt. Die Viecher sind schnell und vor allem frech: hat mich doch kürzlich eine Mücke (Englisch: mosquito, Australisch: mozzie) beim Abwaschen in die Hand gestochen, während ich mit dieser Hand mit dem Bäseli die Teller wusch!

Der Beweis!

Ganz so schlimm wie 2011 am Lake Hindmarsh im Nordosten Victorias ist es aber selten: damals hatte der Lake Hindmarsh (etwa so gross wie der Murtensee) seit 15 Jahren das Erstemal wieder Wasser, während man im Jahr zuvor mit dem Geländewagen mitten durch das leere Seebecken fahren konnte. Offenbar erweckte die Rückkehr des kostbaren Nasses auch die Mücken wieder zum Leben, die im Uferbereich des Sees die Trockenzeit überstanden hatten. Bei Anbruch der Dunkelheit war die Luft schwarz vor Mücken. Da half nur Rückzug ins schützende Auto, von wo man zuhören konnte, wie Hunderte bluthungriger Blutsauger einen Weg durch das Mückennetz suchten.

Lake Hindmarsh (voll und noch vor der Dämmerung)

Am Tag sind die Mozzies meist kein Problem, dafür können die Fliegen äusserst lästig sein. Sie sind kleiner als die Hausfliegen in Europa, dafür schneller und vor allem beharrlicher und zahlreicher. Magneten gleich scheinen die Feuchtigkeit in unseren Augen, die Nasenhöhlen und die Gehörgänge diese Fliegen anzuziehen. Verjagt man sie mit einer Handbewegung, fliegen sie eine Volte und landen eine Sekunde später auf der exakt gleichen Stelle wieder. Beim Wandern setzen sie sich einem vornehmlich auf Hut und Rücken und drehen ab und zu ihre Kurven zum Gesicht oder in die Ohren. Die Strategie, am Leibchen zu zupfen, um die Biester aufzuscheuchen, und dann im Spurt 50 Meter davonzurennen, geht selbst im Gegenwind nicht auf: 10 Sekunden später sind alle Fliegen wieder munter versammelt. Einer meiner Lieblingsautoren, Bill Bryson, hat diese Plagegeister 2001 in seinem Buch «In a Sunburnt Country» beschrieben: Auszug aus dem Hörbuch (Download, englisch, gelesen von Bryson selbst); immer noch eine Pflichtlektüre für jeden, der Australien besuchen möchte.


Es gibt es noch zwei weitere fliegende Fieslinge. Erstens, die sand fly, die mit Sand gar nichts zu tun hat aber in Bodennähe lebt. Sie sieht auf den ersten Blick aus wie die europäische Fruchtfliege und setzt sich mit Vorliebe auf Knöchel und Beine. Dort sitzt sie aber nicht nur, sondern sie beisst, und zwar ein winziges Stück Haut heraus, bevor sie ihr Gift einspritzt. Spätestens jetzt hat man sie verscheucht, aber: zu spät. Etwas Spucke lindert den Juckreiz, der nach einer halben Stunde verschwindet. Doch nach etwa einem Tag erscheint an der Stelle ein kleiner, roter Fleck, der zwei bis drei Tag juckt. Zweitens, ich nenne sie die Teufelsfliege, die einer normalen Hausfliege — auch bei genauerem Hinsehen — zum Verwechseln ähnlich sieht. Statt gegen den Boden geht ihr Rüssel aber gerade nach vorne, ist kurz und spitzig. Diese Viecher sind extrem wachsam und schnell. Bis jetzt konnte ich noch keine einzige totschlagen. Sie stechen, was sofort eine kleine Schwellung verursacht, die über drei Tage heiss bleibt und ziemlich intensiv juckt. Wenigstens sehen Fliegen nachts nichts und belästigen einen somit auch nicht.

So viel zu den fliegenden Biestern. Kürzlich machte ich Kontakt mit einem neuen Parasiten, den die meisten nur vom Hören-Sagen kennen. Nach einem kurzen Aufenthalt an einem Picnic-Platz und einem Spaziergang zu einem Wasserfall, fühlte ich im Auto über dem rechten Sockenrand ein Gefühl, das sich weder als Krabbeln oder Stechen noch als Brennen beschreiben lässt. Das Hosenbein hochgerollt, zeigte sich dieses Bild:


Es brauchte einige Zeit, bis wir uns einig waren, was es war: ein Blutegel (Englisch: leech). So, und wie wird man den wieder los? — Im Film «Ocopussy» nimmt James Bond kurzerhand sein Feuerzeug zur Hand, heizt dem Tierchen ein und zieht es ab. Gesagt getan! Aber war das die richtige (d.h. medizinisch anerkannte) Art, einen Egel zu entfernen? — Das Internet wusste Rat, als wir uns ein paar Stunden später verbinden konnten: man soll Egel nicht brennen oder mit Salz bestreuen. Besser ist es, zunächst einmal gar nichts zu tun, denn nach ca. 20 Minuten hat der Egel seine Mahlzeit beendet und lässt vor sich aus ab. Will man ihn vorher loshaben, soll man mit einem flachen Gegenstand, z.B. einem Fingernagel oder einer Messerklinge, zwischen die Haut und den Saugnapf des Egels gehen, ihn von der Haut abheben und sofort wegschleudern, sodass er sich nicht als nächstes am Finger festsaugt (das Messer soll nicht zum Schneiden sondern als Spachtel gebraucht werden!). Nach der Entfernung des Parasiten blutet es noch ein paar Minuten nach, denn der Egel verfügt über ein Sekret, das die Blutgerinnung für kurze Zeit verhindert. Desinfizieren ist empfohlen, doch Blutegel übertragen offenbar keine Krankheiten. Die Details, wie man sich Egel aus Ohren, aus dem Mund, etc. entfernt, gibt es hier.

Die Preisfrage ist nun: lieber einen Insektenstich oder einen Egelkuss? — Ich entscheide mich für den Egel. Obwohl ein gummitartiges, elastisches und eher ekliges Tierchen, hat seine "Attacke" ausser ein paar Tropfen Nachbluten keine weitere Nebenwirkungen. Zudem kann man sich vor Egeln besser schützen als vor Insekten.


Mittwoch, 7. Januar 2015

SYDNYE – Teil 2

Wie viel das Feuerwerk kostete • Wo das Gedränge erträglich und die Sicht auf das Feuerwerk frei war • Was nach dem Feuerwerk passiert • Weshalb SYDNYE nicht (mehr) der Brüller ist. 

Geschätzte 1.6 Mio Zuschauer haben das Feuerwerk direkt mitverfolgt. Wenige Privilegierte schauten es sich von einer gut gelegenen privaten Terrasse oder Yacht an und setzten dann ihre Silvesterparty fort. Alle anderen zogen sich, wie im letzten Eintrag dargelegt, mit dem Wunsch, das Spektakel vor Ort zu sehen, unter Umständen ein ganzes Tagesprogramm "ins Boot".

Zu den 12 Minuten des eigentlichen Feuerwerks kann ich nur so viel sagen: Wow! Hier sind die Highlights (Youtube, 90 sec):


(Das 7.2-Mio-Dollar-Feuerwerk in der vollen Länge gibt's hier).

Nachdem wir am Vorabend noch etwas mit unserem Gastgeber gesprochen hatten, der uns dazu riet, nicht in Panik zu verfallen und uns nicht auf ein halbherziges Angebot zu stürzen (Stichwort Taronga-Zoo für $60), entschieden wir uns für den Observatory Point. Das ist ein erhöhter Park westlich der Brücke, mit einem wunderbaren Blick auf die Brücke und auf mehrere Arme des Hafens. Er ist nicht ganz so einfach zu erreichen wie der Botanic Garden, ist zwar auch Security Managed und alkoholfrei, öffnet aber erst um 12 Uhr mittags, hat Schatten, gute Aussicht für alle und füllt sich nicht so schnell. Mit Decke, Picknick, Lesestoff und Feldstecher bewaffnet, besetzten wir am Nachmittag ein Bänkli unter einem riesigen Baum. Das Ganze erinnerte stark and ein Open-Air-Konzert, wo man bereits nachmittags eintrudelt, aber eigentlich nur die Hauptgruppe am späten Abend sehen will.


Am Einlass zur wie beschrieben abgesperrten Zone wurden Tascheninhalte kontrolliert (no alcohol, no glass, etc.). Von Beginn weg hatte es relativ viel Sicherheitspersonal in gelben Westen, plus eine Gruppe Polizisten (drei Männer, eine Frau), die das überschaubare Gelände … äh … betreuten. Zwei Personen in orangen Westen sammelten laufend Abfall ein, auch wenn es davon nur wenig gab. Da der Park nach vorne abfällt, hatten alle eine ziemlich freie Sicht, und so entstand kaum Gerangel, was wiederum Langeweile für die Sicherheitskräfte bedeutete.

Um 18 Uhr das Air Display (Flugshow). Kurzum eine müde Sache. In der Schweiz hätte mindestens die Patrouille Suisse ihre Aufwartung gemacht, am SYDNYE waren es zwei Akroflieger mit Rauchschweif, die unspektakuläre und je länger je weniger koordinierte Kreise zogen.

Das Kinderfeuerwerk um 21 Uhr war bereits vielversprechend und das Hauptfeuerwerk, wie erwartet, ein Feuermeer am Himmel. Ein paar Effekte an der Ostseite der Brücke konnten wir nur erahnen, was aber das Erlebnis nicht schmälerte. Da die Zone alkoholfrei war, gab es um Mitternacht kein Korken-Knallen oder Gläser-Klirren, was ohnehin im Feuerwerksgewitter untergegangen wäre.

Klicke das Bild

Jubel, Applaus und Glückwünsche allerseits nach dem Schlussbouquet. Und kurz darauf ging überraschend— und wie im Kino — das Licht an.


Der Jubel verebbte, alle wandten sich zum Gehen und verliessen die Zone unter Betreung durch die Sicherheitskräfte. Ein mehr oder minder stummer Tatzelwurm trottete den signalisierten Korridor zur Innenstadt ab. Aus allen Gassen ergossen sich mehr Menschen in den Hauptstrom. Aber alles war unter Kontrolle. Ein paar Übermütige kletterten auf eine Absperrung und riefen "HAPPY NEW YEAR!"



Je mehr wir uns dem Martin Place näherten, umso mehr Polizei — zumeist zu Fuss, teilweise beritten — und Einsatzfahrzeuge säumten den Strom. Ein bedrohlich aussehender, schwarzer Geländewagen mit der Aufschrift "Riot Squad & Public Order" mit schwarz gekleideten Polizisten stand am Weg. Eine Million Leute zu Fuss in der Innenstand, ruhig, zu ruhig. Man hätte meinen können, die Australische Cricket-Nati habe in London gerade tragisch gegen England verloren, und die Leute seien auf dem Nachhauseweg vom Public Viewing. Ganz sicher konnte heute nicht Silvester sein!

Jeannine hattwe am Morgen noch die gute Idee gehabt, wir könnten doch eine Flasche Prosecco im Kühlschrank bereitstellen, aber ich machte den Gegenvorschlag, dass wir auf dem Heimweg in einem Pub aufs Neue Jahr anstossen. Doch offenbar war die ganze Innenstadt "trocken", die Restaurants, Bars und Bottle Shops waren um 00:45 bereits zu. Wir rieben uns die Augen und gingen am Ende ohne anzustossen ins Bett.

Was war passiert? — Nun, da muss ich etwas tiefer gehen. Australien ist erstens eine Insel, auf der es im Wesentlichen noch nie Krieg oder terroristische Aktionen gab, und auf der man — abgesehen von all den giftigen Tieren ;-) — ein sehr, sehr sicheres Leben lebt. Da sich Australien aber an vielen militärischen UN-Missionen beteiligt (zuletzt in Afghanistan), wähnt man sich dauernd als potentielle Zielscheibe von Islamisten. Die Regierung betreibt gern Panikmache, die Medien bauschen unbedeutende Zwischenfälle zu Ereignissen von nationaler Gefährdung auf. Beides verunsichert die Bevölkerung.

Zweitens wird Australien von einem Zwei-Parteien-System mit Oppositionspolitik reagiert. Wechselt die Regierungspartei, so werden oft als erstes Massnahmen der vorangehenden Regierung wieder neutralisiert oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Die Regierungspartei ist ständigem Druck nach Handeln und Resultaten ausgesetzt, was, zusammen mit eher wenig nachhaltigen Denken, zu Schnellschüssen und Überreaktionen in politischen Entscheidungen führt.

Drittens gab es im Lindt-Café am Martin Place (siehe oben) kurz vor Weihnacht eine tragische Geiselnahme (Kurzfassung in Deutsch), die mit dem Tod von zwei Geiseln und dem Geiselnehmer endete. Sofort war von Terrorismus die Rede, die Nation war in Aufruhr, und der Premierminister versetzte das Land für die Feiertage in die höchste Alarmstufe ("code red"). Die Frage sei erlaubt, welche Alarmstufe ausgerufen würde, falls Nordkorea plötzlich zu einer Luftlandung ansetzte.

Viertens kam es in den vergangenen Jahren an Silvester mehrfach zu sogn. one-punch attacks, in denen jeweils ein Betrunkener in Rage geriet und von hinten einen Passanten anfiel. Letztes Jahr starb dabei eine Person. Das brachte das Fass zum überlaufen, die Bevölkerung verlangte Massnahmen, das Parlament von New South Wales setzte neue Gesetze in Kraft, die dann auch noch mit Übereifer umgesetzt wurden (siehe Security Managed Zone, oben). So dürfen Bars und Restaurants in Sydney z.B. nach 23:30 generell und nicht nur an Silvester keinen Alkohol mehr ausschenken. Die Politik sollte häufiger einfach die Polizei ihre Arbeit machen als sich von übers Ganze gesehen unbedeutenden Zwischenfällen zum Eingreifen verleiten zu lassen. Offenbar waren wenige Tage vor Silvester zusätzlich 3000 Polizisten zur Wahrung der Sicherheit des SYDNYE aufgeboten worden. Nochmals: in Australien lebt man sehr, sehr sicher.


Zusammenfassend wurde SYDNYE wenn nicht über-organisiert dann doch über-reguliert und -kontrolliert. Das Feuerwerk ist sehr sehenswert, zählt man aber den ganzen Rummel vorher und nachher dazu, dann lohnt es sich eher nicht. Ich will keineswegs sagen, dass man ohne Alkohol nicht lustig sein kann, aber hier wurde klar das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Lohnt es sich überhaupt noch, Sydney zu besuchen? — Ja, ohne Einschränkung, und besser 8 als nur 4 Tage!

Sonntag, 4. Januar 2015

SYDNYE – Teil 1

Wie Sydney sein Neujahrsfeuerwerk organisiert • Was eine "Security Managed Site" ist • Warum man eine Strategie für die Wahl des "richtigen" Aussichtspunkts braucht • Weshalb Leute bis zu $500 für einen guten Sicht bezahlen.

Während die Neuseeländer an Silvester (engl. New Years Eve, NYE) in Auckland jeweils als erste das Feuerwerk abbrennen, und auch Melbourne viel Geld in den Himmel feuert, so stiehlt das Feuerwerk in Sydney doch allen die Show. Kaum ein TV-Sender auf der Welt, der nicht über das Spektakel an der weltbekannten Harbour Bridge berichtet. Das mussten wir uns natürlich ansehen! Auf der einen Seite ist es zwar etwas verrückt, Sydney genau dann zu besuchen, wenn die Stadt so voll ist wie sonst nie im Jahr. Auf der anderen Seite passte das sehr gut in unseren allgemeinen Reiseplan, weil wir ohnehin in der Gegend waren, und weil wir wegen der Sommerferien auf den Campingplätzen im Umkreis von ein paar hundert Kilometern von Sydney auch täglich um einen guten Platz buhlen müssen.


Dank AirBnB fanden wir eine gute Woche vor dem grossen Event sogar noch ein gut gelegenes Zimmer zu einem vernünftigen Preis, doch Jeannine fand bald heraus, dass es damit nicht getan war: man kann nicht einfach, wie am Züri-Fäscht, ans Seeufer gehen und das Feuerwerk geniessen. Alle halbwegs guten Gelände (vantage points) — das Opernhaus, der Botanic Garden, die Circular Quay Promenade, der McMahons Point, etc.— werden von der Stadtverwaltung “Security Managed”.


Mit Erstaunen stellten wir am Montag und Dienstag fest, welch riesige Anstrengungen unternommen werden, um die erwarteten Menschenmassen zu lenken und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Vor fünf Jahren hatte ich in Blog-Einträgen berichtet, welch herkulische Aufgabe die Vorbereitung des Formel-1-Autorennens in Melbourne ist. Nun, SYDNYE steht dem in nichts nach. Es ist der grosse Anlass im Jahreskalender der grössten australischen Stadt. Das beginnt mit dem Marketing und dem coolen Wortspiel um “Sydney” und “NYE” und hört nicht auf mit den “Inspire”-Flaggen, die überall in der Stadt wehen. Am Circular Key gibt es einen Info-Container nur zum Feuerwerk. Eine mehrseitige Infobroschüre wird gedruckt und verteilt.




Für das Smartphone steht eine Gratis-App zur Verfügung, die im Detail über die vantage points informiert (am Silvester sogar live, u.a. damit man seinen Mitternachts-Countdown synchronisieren kann). Buslinien werden umgeleitet, Hunderte zusätzliche Abfallkübel und Leuchtdisplays aufgestellt, Freiwillige rekrutiert, Polizei und Feuerwehr aufgeboten. Aber vor allem werden die Zuschauergelände rigoros abgesperrt und gesichert: innerhalb der Gelände wird jede Statue, jeder Grube und jeder Abhang mit Gittern umzäunt, damit sich nicht jemand den Fuss verrenke; von Generatoren versorgte Leuchten werden installiert, damit nicht ein Kind seine Eltern oder jemand seine Flip-Flops verliere. Verpflegungsstände werden eingerichtet; lange Zeilen an Festival-Toiletten aufgebaut, etc. — Notabene für einen Event von gut 10 Minuten Dauer.




Für den Silvesterabend gibt es ein veritables Programm (Auszug):

  • 18 Uhr: Air Display (Flugshow)
  • 19 Uhr: Löschboote demonstrieren im Hafen ihre Spritzen
  • 20 Uhr: Air Display
  • 21 Uhr: Kinderfeuerwerk von zwei Pontons im Hafen. Dauer: 6 Min.
  • 22:40 Uhr: kurzes Vorfeuerwerk. Dauer: 1 Min.
  • 24:00 Uhr: Das Grosse Feuerwerk von der Harbour Bridge und von mehreren Pontons im Hafen

Dass der Sydney Harbour nicht einfach ein Becken ist sondern ein vielgestaltiges Gebilde aus Wasserwegen und Buchten, vereinfacht die Angelegenheit nicht. Die Auswahl des eigenen Standorts wird zu einer komplexen Entscheidungsfindung. Zuerst muss man wissen, dass sich ein Teil des grossen Feuerwerks lediglich am östlichen Bogen der Harbour Bridge abspielt. Damit sind alle Aussichtspunkte westliche der Brücke schon mal etwas im Nachteil. Dann geht man, wie bereits angedeutet, nicht einfach in den, sagen wir, Botanic Garden, um sich das Feuerwerk anzuschauen, obwohl dieser riesig gross und der Eintritt auch am NYE gratis ist. Denn dort wurde ein offizielles NYE-Gelände designiert und mit Gittern abgeriegelt. Es fasst 16’000 Leute und wird an Silvester um 10:00 Uhr (morgens) geöffnet. Die besten Plätze sind rasch genommen, denn — und das hat ein botanischer Garten so an sich — Bäume behindern vielerorts die freie Sicht auf Opernhaus und Harbour Bridge. Mit dem Tropfenzähler werden die Eintritte registriert, und bei Erreichen der Kapazität wird die Pforte geschlossen. Wann ist dieser Zeitpunkt gekommen? — Man weiss es nicht im voraus, und die Smartphone App sagt bloss, “Will close soon”. Man steht also vor der Wahl, früh dort zu sein, den Tag als ein sehr langes Picknick zu organisieren und einen guten Punkt zu besetzen. Oder spät zu gehen, eine verdeckte Aussicht oder gar einen verweigerten Zutritt zu riskieren.

So hat sich ein neuer Geschäftszweig entwickelt: ausgewählte Orte (privat oder öffentlich) garantieren kostenpflichtig freie Sicht: die nördliche Landnase vor dem Opernhaus, die Fort-Denison-Insel, Ausflugsschiffe und Fähren, der Taronga-Zoo, etc. Was man für sein Geld kriegt, ist meist bescheiden, die Preise variieren von $25 bis $500, evt. mit einem Glas Champagner zum Anstossen, meist aber ohne Bankett oder dergleichen.


Natürlich muss man die günstigen oder die wirkliche guten Angebote Wochen im voraus buchen, was wir aber nicht getan hatten, weil wir eben keine Feinplanung für unsere Reiseroute machen (wollen). Sollten wir $60 für einen Aussicht vom Taronga-Zoo, der über 2 km östlich der Bridge liegt, zahlen? Sollten wir ab 9 Uhr vor der Pforte zum Macquarie Point auf deren Öffnung um 10 Uhr warten und dann den Rest des Tages — vielleicht sogar in der Sonne —ausharren? Sind Klappstühle (im Woolworths-Supermarkt für $10 erhältich) erlaubt? Lohnt sich der ganze Aufwand für ein bisschen Feuerwerk? — Niemand konnte uns die Entscheidung abnehmen. Inspire!


(Weiter zum Teil 2).