Freitag, 23. Oktober 2015

Sheepo,Teil 2

Was einen Scherer mit einem Tour-de-France-Rennfahrer verbindet • Wie ein Contracting-Team funktioniert • Wo die Australische Labor Party ihre Wurzeln hat • Warum die Scherer genau viermal zwei Stunden arbeiten. 

Fortsetzung von Teil 1.

Wann in Australien das erste Schaf gegen Bezahlung geschoren wurde, ist nicht überliefert. Dafür ist genauestens bekannt, wie viele Schafe es 1845 allein in Victoria gab: 1'792'527 — und die mussten geschoren werden. Um 1850 machte die Wolle bereits zwei Drittel der australischen Exporte aus, die ausschliesslich nach England gingen.

(Quelle: Foto in der Birdsville Bakery)

Geschoren wurde damals mit der Handschere, zuerst im Freien durch die Schafhirten selbst. Die Wolle war von mässiger Qualität, doch wurde rasch optimiert:
  • die Merino-Schafe wurden auf höheren Wollertrag und höhere Wollqualität hin gezüchtet
  • spezialisierte, fliegende shearers (Scherer) übernahmen ab ca. 1840 die Scherarbeit
  • die Schertechnik wurde laufend verbessert
  • vor dem Scheren wurden die Schafe im Bach gewaschen, ab ca. 1870 mit warmem Wasser in Becken
  • es wurden spezielle woolsheds (Schuppen) gebaut, in denen geschoren, die Wolle aufgenommen, nach Qualität klassiert und in Ballen gepresst wurde.
Die shearers radelten Hunderte Kilometer zwischen den Stations
(Quelle: Buch On the Sheep's Back)

Handschere (ziemlich abgenutzt, Klingen bereits stark verkürzt)

Traditionelle shearers' mocassins

Woolshed in Hay

Vier Scherstände — die Schafe warten hinter den Türen

Hinter jeder Türe ein Pferch — Sheep-o!

Richtig platziert halten die Schafe still

Über die Rutschen kommen die Schafe nach dem Scheren wieder ins Freie

Der Entwickler der Tally-Hi Schermethode (Shearers' Hall of Fame, Hay)

Während die shearers zuerst direkt vom Station-Besitzer angeheuert wurden, entwickelte sich seit dem späteren 19. Jahrhunderte ein Contracting-System, in dem der Besitzer einen Vertrag mit einem contractor schliesst, der ein komplettes Team stellt, um z.B. 30'000 Schafe in vier Wochen zu einem Preis von so-und-so pro Schaf zu scheren. Ein Team besteht aus:
  • contractor — organisiert und überwacht vor Ort den Betrieb
  • shearers — trennen die Schafe von der Wolle
  • expert — hielt früher die Scheren scharf und später die Apparate und Maschinen am Laufen
  • rouseabouts— nehmen die Wolle am Boden zusammen, und präsentieren den fleece (der Grösste Teil der Wolle kommt als zusammenhängender "Teppich" herunter) auf dem Wolltisch
  • tarboy — verarztet die Schafe nach kleinen Schnitten, indem er eine Art Teer draufstreicht; grössere Schnitte muss der shearer selbst mit Nadel und Faden zunähen
  • classer — begutachtet die Wolle und teilt sie in Qualitätsklassen ein
  • pressers — pressen die Wolle nach Qualität in Ballen à 200 kg
  • cook — sorgt für das leibliche Wohl des Teams.
Bis zur Einführung von Ballenpressen, die von Dampfmaschinen, Elektromotoren oder hydraulisch angetrieben wurden, war das Pressen eine Racker. Waren die pressers zum offiziellen Arbeitsschluss nicht fertig, stand Nachtarbeit an. Der Koch hatte wohl den längsten — und vielleicht härtesten — Tag: von 04:30 bis ca. 22:00 wollten Frühstück (pro Person 2 Würste, 2 Eier, Speck, 2 Toasts), Smoko (Znüni: 2 Sandwiches), Lunch (kaltes Fleisch, Nudel-, Blatt- und Kartoffelsalat, Tomaten, Brot, Butter, 250 g eingemachte Früchte), Smoko (Zvieri: 4 Brötchen) und Nachtessen (4 Scheiben Lammbraten, 2 Kartoffeln, 200g Kürbis, 1/2 Tasse Erbsen, Sauce, Brot, Butter, Pudding) zumeist auf dem Feuer zubereitet sein. Brot musste gebacken, Tee und Kaffee gekocht, und alles wieder abgewaschen werden. Kerosinkühlschränke hielten das notwendigste kühl.

Von einer Dampfmaschine angetriebene Ballenpresse
Vordergrund: Schleifstein für die Schermesser

Küche (Quelle: Buch On the Sheep's Back)

Doch die offiziellen Schwerarbeiter — aber teilweise auch die Primadonnen —war die shearers: sie arbeiteten Montag bis Freitag von 07:30 bis 09:30 (Smoko), von 10:00 bis 12:00 (Lunch), von 13:00 bis 15:00 (Smoko) und von 15:30 bis 17:30. Die woolsheds waren meist aus Wellblech; Innentemperaturen gegen 50°C waren keine Seltenheit. Die Unterkünfte waren oft sehr primitiv, denn hier sparte der Station-Besitzer Geld. Am Samstag wuschen die shearers ihre Kleider, danach war Ausgang und am Sonntag Ruhetag. Ihre Arbeit war bis aufs Kleinste durch die Scherergewerkschaft (Australian Shearers' Union, ASU, gegründet 1886) vorgegeben. Die Arbeitszeiten wurden sekundengenau mit einer Glocke ein- und ausgeläutet, angefangene Schafe wurde nicht fertiggeschoren. Gewerkschaftlich organisierte shearers weigerten sich, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die nicht in der Gewerkschaft waren.

Arbeit im Woolshed; im Vordergrund der wool table, an dem die fleeces klassiert wurden(Quelle: Buch On the Sheep's Back)

Da die shearers in einem woolshed Seite an Seite arbeiten und pro geschorenes Schaf bezahlt werden (alle anderen arbeiteten im Tagslohn, Unterkunft und Verpflegung war für alle Teil der Abgeltung), wird geschoren, was das Zeug hält — und natürlich genauestens Buch geführt. Der ringer ist der shearer, der an diesem Tag die meisten Schafe geschoren hat. Den Rekord für Handscheren hielt Jackie Howe, der am 10. Oktober 1892 in 7 Std 40 Minuten 321 Schafe schor — das sind knapp 90 Sekunden pro Schaf! Er sei 88 kg Muskeln gewesen mit Händen wie kleine Tennisrackets. Der Rekord steht immer noch.

Mit der Maschine wird der Rekord bis heute laufend verbessert und steht für Merino-Mutterschafe bei 466 (in 8 Std). Ein shearer verbrennt in einem Arbeitstag annähernd so viele Kalorien wie ein Tour-de-France-Rennvelofahrer. Sheep-o!

Schermaschine (Exponat im Shearers' Museum in Hay, das zeigt, wie die Maschine funktioniert)

Ein grosses Merino-Schaf wird von A bis Z geschoren, dann wird der fleece auf den Tisch geworfen und gesäubert

Scheralltag heute

"The Australian Shearer" wurde glorifiziert und zu einem nationalen Mythos aufgebaut, der erst etwas an Glanz einbüsste, als im Ersten Weltkrieg der ANZAC-Soldaten-Mythos gefördert wurde, der bis heute anhält.

Die Schermaschinen hielten ab den späten 1880er-Jahren Einzug, und es kam zum Glaubenskrieg: Handschere gegen Maschine. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten shearers in gut angelsächsischer Manier bereits gewerkschaftlich organisiert, und die Gewerkschaft hatte Angst, dass mit der Maschine schneller geschoren werden konnte und dass dadurch weniger Mitglieder Arbeit fanden. Das war ein Motto, das sich bis in die 1980er-Jahre durchzog, als die Neuseeländischen shearers in Australien einen Scherkamm zu benutzen begannen, der 91 mm statt der gewerkschaftlich erlaubten maximalen 64 mm breit war (Details). In beiden Fällen kam es zu gewaltsamen Anfeindungen, zu Streiks, Schlägereien, Brandstiftungen, Vergiftungen mit Strichnin, Verhaftungen und Gerichtsprozessen, die Gräben in ganz Australien hinterliessen. Die Gewerkschaft trat von Anfang an als Verhindererin des technologischen Fortschritts auf. 1891 kam es an mehreren Orten in Queensland zum Streik, das Streikkomittee tagte in Barcaldine. Während fünf Monaten lagerten dort 4'500 streikende shearers. Die politische Führung schlug sich auf die Seite der Station-Besitzer, die Streikbrecher herbeifahren liessen, weil ihre Schafe geschoren werden mussten. 1'000 Polizisten wurden aufgeboten. Aber das Ganze war von der ASU schlecht geplant gewesen, das kalte und nasse Wetter zermürbte die Streikenden, das Geld ging aus, sie mussten das Handtuch werfen. Doch ging aus dieser Bewegung die Labourers' Union hervor, die der Vorläufer der heutigen Australischen Labor Party (ALP) war. Die Konstitution der ALP besagt heute noch:

"The Australian Labor Party is a democratic socialist party and has the objective of the democratic socialisation of industry, production, distribution and exchange, to the extent necessary to eliminate exploitation and other anti-social features in these fields" (Quelle).

Schmaler und breiter Scherkamm

Tree of Knowledge in Barcaldine: hier tagte 1891 das Streikomittee

Gewerkschaften spielen im Wirtschaftsleben von Australien bis heute eine wichtige Rolle. Und leider keine gute. Sie gehen stets von der einzigen Annahme aus, dass die Arbeitgeber die Arbeitnehmer ausbeuten wollen, um ihren eigenen Gewinn zu maximieren. Den Gewerkschaftszentralen geht jedes unternehmerische Verständnis ab. Als die breiten Scherkämme aufkamen, verbot die ASU ihren Mitgliedern aufs Schärfste, diese zu nutzen, auch als die meisten shearers zur Einsicht gekommen waren, dass sie damit produktiver waren. Die ASU verlor deshalb später innert kurzer Zeit 70 Prozent ihrer Mitglieder …

Es ist allgemein bekannt, dass Ford, Holden und Toyota ihre Produktionen in Australien in den nächsten zwei Jahren unter anderem auch deshalb einstellen, weil sie keine gemeinsame Zukunft mit den australischen Gewerkschaften mehr sehen. So verlieren die Gewerkschaftsmitglieder nun nicht nur einen Teil ihrer Privilegien sondern gleich die Stelle. Sheep-o!

Quellen: Buch On the Sheep's Back, 2010; Buch The Shearers, Ewan McHugh, 2015 (auch als Hörbuch verfügbar); Shearers' Museum und Shearers' Hall of Fame, Hay, Australia

2 Kommentare:

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