Verlässt man das Zentrum von Melbourne, erreicht man — je nach Verkehr — in 10 Minuten die nahen Vororte. Die Agglomeration Melbourne hat gut 4 Mio. Einwohner, und entsprechend breit ist der Vorortsgürtel. Fährt man nach Osten oder Südosten aus der Stadt heraus, ist der Gürtel 30-40 km dick, weil der Grossteil der Bevölkerung in Einfamilienhäusern wohnt, was viel Fläche beansprucht. Fährt man in dieselbe Richtung weiter, ist man bald schon in der Region Gippsland, die ziemlich genau so gross ist wie die Schweiz und landschaftlich fast ebenso divers. (Der Vollständigkeit halber: der Staat Victoria, VIC, dessen Hauptstadt Melbourne ist und in dem Gippsland liegt, ist siebenmal so gross wie die Schweiz).
Gippsland grenzt im Norden an das High Country mit seinen riesigen Eukalyptus- und Föhrenwäldern, mit Bergen — wo im Winter sogar Ski gefahren wird —, mit Flüssen und (Stau-)Seen. Im Süden ist Gippsland begrenzt durch die Bass Strait, die raue Meerenge zwischen dem australischen Festland und Tasmanien. Dazwischen ist liegt vor allem Agrarland. Etwas Ackerbau, etwas Schafzucht, aber weitaus der grösste Teil ist Milchwirtschaft und Fleischzucht. So etwas wie das Emmental von Australien. Es ist vorwiegend hügeliges oder flaches Grasland, unterbrochen von Baum- und Buschhecken, durchsetzt mit Wäldern und Seen, besprenkelt mit Tausenden Farmen. Und dann gibt es auch noch einige Städchen und viele Dörfer.
Wer findet die Kühe?
Eine typische Farm (Bild anklicken für Vergrösserung). Links ist der Geräteschuppen; Stall gibt es keinen — die Kühe sind immer draussen.
Gippsland ist kein eigener Verwaltungsbezirk sondern überspannt gleich mehrere davon. Trotzdem leben hier nur eine Viertelmillion Menschen, was dem Ganzen eine natürliche Grosszügigkeit verleiht. Die wichtigeren Städte haben zwischen 10'000-20'000 Einwohner und sind vor allem Regionalzentren für die Landwirtschaft. Gippsland ist im Rest von Australien vor allem für seine Milchprodukte bekannt. Es gibt Buslinien und eine Bahnlinie, aber ohne Auto ist es hier ziemlich bitter. Gippsland ist kein klassisches Ziel für Australientouristen. Noch nicht, denn Gippsland ist ganz sicher unterbewertet, speziell jetzt in der Vorsaison. Die Küsten- und Fischerstädtchen haben zwar oft einen etwas verwelkten Charme, viele Lokalitäten sind geschlossen oder haben reduzierten Öffnungszeiten.
Haben aber erst einmal die Sommerferien über Weihnacht und Neujahr angefangen, dann ist das Gerangel um Unterkünfte in Meeresnähe garantiert, denn Melbourne ist im Sommer heiss und nur 1-4 Stunden Autofahrt entfernt. Bereits jetzt, drei Wochen vor den grossen Ferien, stellen gewisse Schlaumeier schon mal ihren Wohnwagen auf einen der kostenlosen Campingplätze, um den Top Spot auf sicher zu haben, wenn sie nach Weihnachten wieder anrücken.
Gippsland und Melbourne teilen eine interessante Eigenschaft: Während Melbourne nicht über die singulären Touristenattraktionen wie das Opernhaus, die Harbour-Bridge oder den Hafen von Sydney verfügt, so ist es trotzdem eine ebenso attraktive Destination, wenn man etwas Zeit mitbringt und die Stadt und ihre Umgebung für sich entdecken kann. Neben den viktorianischen Arkaden der Innenstadt, dem Botanischen Garten oder dem neu entwickelten Quartier, westlich des Zentrums, bietet Melbourne vor allem kulturelle Werte wie Märkte, Restaurants, Theater und Konzerte, Sportanlässe, etc. In gleicher Weise lockt auch Gippsland den Touristen nicht mit “big ticket”-Sehenswürdigkeiten vom Kaliber eines Ayers Rock oder einer Great Ocean Road, die man besuchen und abhaken kann. Auch für Gippsland muss man etwas Zeit und Neugier mitbringen.
Der Wilson’s Promontory Nationalpark und die Lagunen (“Lakes”, "Inlets") zwischen Lakes Entrance und Mallacoota werden vom zuständigen Touristenbüro aktiv und mit Erfolg vermarket. Mit dem Resultat, dass man in der Hauptsaison sowohl für den einzigen grossen Campingplatz in Wilson’s “Prom” sowie für fast alle Unterkünfte um Lakes Entrance Monate im voraus reservieren muss. Hier sollte man also generell, wie bereits erwähnt, in der Nebensaison einen Besuch abstatten. Aber der Railtrail von Bairnsdale nach Orbost (94 km) wird kaum je überlaufen sein, weil man auf der ehemaligen Bahnstrecke selbst mit dem Velo fahren muss — die Geleise und Schwellen wurden natürlich entfernt. Der Farmers Market in Koonwarra bleibt auch in der Hauptsaison eine persönliche Angelegenheit. Die Boardwalks des Common State Game Refuge in Sale bieten selbst während der Ferienzeit Ruhe und Möglichkeiten zur Vogelpirsch. Es gibt hunderte von Kilometern Strände, die nicht von Badenden eingenommen werden, weil man ein, zwei Kilometer zu Fuss gehen muss, um sie zu erreichen. Die kleinen, ländlichen Städte haben allerhand Skurriles und Ulkiges zu bieten, wenn man nur genau hinschaut. Und auch die unzähligen ungeteerten Nebenstrassen durch herrliche Wälder kennen während der Sommerferien keinen Stau. Auf hunderten kürzeren und längeren beschilderten Rundwanderungen kann für sich neue Pflanzen und Tiere entdecken. Naturerlebnisse sind ganzjährig garantiert.
Swing Bridge (dreht um den mittleren Pfeiler) in Sale
Speargrass … piekst!
Es lohnt sich also durchaus, mit vier bis sechs Wochen Ferien im Gepäck in Melbourne zu landen, zwei Wochen Melbourne und Umgebung (Radius 100 km) zu erkunden, und dann statt in den Westen zur Great Ocean Road in den Osten zu reisen, um Gippsland bis zur Staatsgrenze zu New South Wales zu durchstreifen.
spannder eintrag oli und fast alles neuland - ausser dass die kühe auch in australien am schatten liegen...:-)
AntwortenLöschenfreue mich auf die nächse etappenblogstorys, so long, beat