Mittwoch, 11. März 2015

Die ignorierte Stadt

Wie Australier immer einen Superlativ finden • Warum eine Stadt einfach vergessen wird • Wo diese Stadt in ganz anderen Bereichen punktet • Weshalb sich ein Besuch erst recht lohnt

Wir Schweizer haben eine starke Tendenz zur Konfliktvermeidung. Dazu haben wir mehrere Strategien entwickelt: so sind wir zum Beispiel ziemlich gut im erarbeiten von Kompromissen, oder wir setzen lieber auf Individualität oder Qualität, als uns einem Vergleich mit einem Konkurrenten zu stellen. Dagegen sind Australier im Allgemeinen sehr kompetitive Leute, die den Vergleich mit anderen suchen … und gerne gewinnen. Dauernd wird verglichen: beim Sport (mehr Punkte, mehr Goals, länger, weiter), beim Autofahren (grösser, lauter, schneller), beim Einkaufen (billiger, mehr fürs gleiche Geld, besseres Modell), bei Sehenswürdigkeiten (grösser, teuerer, älter), etc. Zuerst vergleicht man sich mit dem Nachbarn, dann vergleicht man mit den anderen Teilstaaten und schliesslich mit der ganzen Welt. Ist man nicht so sicher, ob man jetzt z.B. die tiefste oder grösste Mine der ganzen Welt hat, dann ist “one of the Word’s greatest …” ein sicherer Wert. Ist man bekannterweise nicht Weltspitze, dann ist “… in the southern hemisphere" ein oft bemühter Superlativ, z.B. “der Frischwarenmarkt in Adelaide ist der grösste der südlichen Hemisphäre!”. Ich frage dann jeweils, ob sie den Markt in Buenos Aires kennen, das 14 Mio Einwohner hat, oder den in Johannesburg. Meist kriege ich ein ratloses Gesicht zur Antwort. Es geht also ganz klar darum, zuoberst zu stehen; vielleicht sind der zweite und der dritte Rang auch noch akzeptabel, aber ohne Medaille, das ist nichts. Notfalls kreiert man sich seine eigene Meisterschaft (meist ohne Nennung der Mitstreiter oder der Zusammensetzung der Jury) und kann dann zumindest eine Auszeichnung vorweisen, z.B. “Award for the best Goulburn Valley blue goat cheese 2011” — da dürfte es allerdings nicht viel Konkurrenz geben.

Adelaide Market (täglich geöffnet)

Diesem Ranking müssen sich natürlich auch die Hauptstädte der australischen Teilstaaten stellen. Vergleicht man die Anzahl der Einwohner, gibt’s ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Sydney und Melbourne haben je ca. 4.5 Mio, Brisbane: gut 2 Mio, Perth: 1.8 Mio. Von den anderen Hauptstädten redet schon keiner mehr, denn diese vier grossen machen mit zusammen 13 Mio Einwohnern schon weit über 50% der australischen Bevölkerung von 23 Mio aus.

Vergleicht man die Städte nach Attraktivität, macht natürlich Sydney mit seiner spektakulären Lage am natürlichen Hafen, dem Status der ältesten Stadt und den zahlreichen hervorstechenden Gebäuden das Rennen. Melbourne schwingt vor allem in Sachen Life Style oben aus sowie mit den vergleichsweise nahe gelegenen Landschaftlichen Höhepunkten. Perth wiederum ist in den letzten Jahren wegen dem Mining Boom, der zu einem guten Teil in West Australien stattfand, enorm gewachsen und reich geworden. Brisbane ist die Boom Town schlechthin, an der Gold Coast gelegen, mit schönem Wetter gesegnet und Erfolg ausstrahlend. Das war’s dann auch hier.
 Keine weiteren Nennungen.

Adelaide wird in Australien faktisch meist ignoriert. Ist einfach nicht da. Das gilt für die Medien, die Wirtschaft, die Politik, den Sport, die Mode, etc. Dabei hat Adelaide immerhin auch 1.3 Mio Einwohner und ist die Hauptstadt des trockensten Staats auf dem trockensten Kontinent. Aha, jetzt haben wir doch noch einen Superlativ gefunden!


Zugegeben: Adelaides Stadtzentrum liegt nicht direkt am Meer (wie auch Melbourne und Perth), dafür an einem Fluss, dem Torrens River. Dieser schlängelt sich unmittelbar nördlich des CBD (central business district) vorbei und ist ein Naherholungsgebiet, z.B. fürs Joggen oder Rudern über Mittag. Dafür ist Adelaide absolut flach, was das Ganze städteplanerisch einfach hätte machen können. Diese Chance wurde nicht konsequent genutzt, sondern man hat die Aussenquartiere durch Grüngürtel abgegrenzt. Das schien einmal eine gute Idee, schafft aber heute faktisch einen Graben zwischen “innen” und “aussen”.

Torrens River, 500 m vom Stadtzentrum

Dieser Stadtplan blendet die Aussenquartiere schlicht aus

Im CBD von Adelaide ist alte koloniale Architektur mit neuer Architektur gemischt, und zum Glück weniger "krass" als in Sydney, das auch von diesen dramatischen Gegensätzen lebt, dafür mehr als in Melbourne, wo der Stadtkern weitgehend aus den Zeiten des Goldrausches um die Wende zum 19. Jahrhundert stammt und einige sehr prunkvolle Gebäude vorweisen kann.

Adelaide Arcade





Natürlich gibt es auch hier einige Bausünden, die so nicht hätten passieren dürfen. Ein offen sichtbares Parkhaus inmitten der Fussgängerzone — praktisch gedacht, aber hässlich. Immerhin versucht man ein anderes Parkhaus, ganz in der Nähe, nachts in einen Lichtschleier zu hüllen.



Adelaide ist in Australien als sehr konservative Stadt verschrien, wo man in gewissen Kreisen das Gegenüber zuerst fragt, welche Schule sie oder er denn besucht hätte. In der Politik konnte Adelaide mit Julia Gillard zwar von 2010 bis 2013 die Premierministerin stellen, aber ihre Wahl kam für viele moralisch etwas fragwürdig zustande (sie bootete mehr oder weniger ihren Parteikollegen inmitten der laufenden Regierungsperiode aus), und genauso unrühmlich ende ihre eigene Amtsperiode.

Wer aber jetzt zum Eindruck gelangt ist, Adelaide sei eine langweilige und nicht nur im meteorologischen Sinn trockene Stadt, der hat vorschnell geschlossen. Denn in Sachen Kultur liegt Adelaide ganz vorne und gibt sich sehr selbstbewusst. Melbourne behauptet seit langem die Food-Kapitale Australiens zu sein, doch scheint dieser Thron zu wanken, denn im Dezember hat der Popstar der modernen Küche, Jamie Oliver, im Zentrum von Adelaide ein Restaurant eröffnet. Und das ist natürlich kein Zufall. Adelaide ist auf dem Weg nach oben! (Auch wenn gewisse Pessimisten schon vor 15 Jahren behaupteten, die Stadt sei dem Untergang geweiht).

Während Victoria auf die Autokennzeichen schreibt «The Place To Be», schreibt South Australia «The Festival State». Vor zwei Wochen fand das mittlerweile weltbekannte Adelaide Fringe Festival, wo jeweils die nächste Generation von Performance-Stars von Kunst, Musik und Tanz auftreten, statt. Gerade im Moment laufen das Adelaide Festival und WOMADelaide (World of Music, Arts & Dance), im Juni das Adelaide Cabaret Festival, im August das South Australian Living Arts Festival, im September die Royal Adelaide Show — die Liste liesse sich fast beliebig verlängern.

Und schliesslich hat Adelaide noch einen Trumpf im Ärmel, von dem Sydney, Melbourne und Perth nur noch träumen können: Adelaide ist laid back (KURSIV). Laid back kann man mit zurückgeblieben oder mit provinziell übersetzen, aber stressfrei ist eine viel angemessenere Wahl. Im Zentrum von Adelaide gibt es im Vergleich wenig Verkehr und auch deshalb eben wenig Stress. Es gibt eine wunderbar lange Fussgängerzone, viele coole Cafés in den Seitengassen, die Leute grüssen sich in den Geschäften.

Rundle Mall


Die Mode ist teilweise konservativ, wenn nicht gar ländlich, die Make-ups sind einfach gehalten, und die Leute sind sich selbst. Die Adelaidians strahlen mehrheitlich einen natürlichen Charme aus, der so ganz das Gegenteil von Sydneys überheblichem Glamour-Glamour-und-sportlich-Aussehen-Getue ist. Also auch wenn Adelaide in Australien oft meist "vergessen" wird, dann tut das dem Lebensstil dieser Stadt keinen Abbruch — wohl eher im Gegenteil, wie die aufstrebende Gastronomie- und Kulturszene beweisen.

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